Veronica Biondini (Zarewna), Gianmarco Martini Zani (Iwan) © Ida Zenna
Kritiken

Dichte Raumkonstruktionen

Doppelpremiere beim Nordhäuser Ballett

von Volkmar Draeger

Explosive Donnerschläge lassen die Zuschauer im Sondershausener Haus der Kunst zusammenzucken. Dort, in der Zweitspielstätte auch des Nordhäuser Balletts, präsentiert es seine neue Produktion: einen Doppelabend. Für den ersten Teil konnte mit Jiří Pokorný einer der interessantesten europäischen Choreografen gewonnen werden. „Humpback Runner“ (Buckliger Läufer) nennt er seinen Halbstünder, der 2016 für das Nederlands Dans Theater 2 entstanden war und vom Werk des Hieronymus Bosch inspiriert ist. Was beide allenfalls verbindet, die Choreografie und das Œuvre des genialen Malers der Frührenaissance, ist der Aspekt des Rätselhaften. Pokornýs Kreation, gedanklich gesiebt, verdichtet und entschlackt, kann indes ohne diesen Bezug bestehen – und sie tut das glänzend! Marschtritt hallt über Liegende, ehe sie sich zum Pulk formieren und mit dem Rücken zum Saal in gespenstischem Lichtnebel mit gespeizten Fingern die Hände recken. Übergroß, als Zwei-Mann-Hoch, schreitet eine Gestalt über die Bühne; sie wird gegen Ende nochmals vorüberstolzieren und mag als Symbol der Dominanz deutbar sein.

Fotos: Ida Zenna

Vito Damiano Volpicella (Feuervogel), Gianmarco Martini Zani (Iwan), Damen Ballett TN LOS! (Prinzessinnen)
Vito Damiano Volpicella (Feuervogel), Gianmarco Martini Zani (Iwan)

Was sich dann vollzieht, zu Klang und Geräusch verschiedener Komponisten, ob Getrappel, Rauschen oder Pulsen, ob Vokalisen oder Songs mit Text, ist ein nimmermüder, meist nervös dem Körper entströmender Bewegungsstrudel. Soloaktionen gehören ebenso dazu wie Duos ohne Berührung und immer wieder auch in sich gegliederte Gruppenballungen. Geduckt sendet der Pulk dann Signale wie stumme SOS-Rufe aus, fliegt in Bruchteilen von Sekunden über Balancen hinweg, dehnt, an den Händen gefasst, die Form ins schier Unendliche. Impulse durcheilen wie beim Breakdance die Arme oder den ganzen Körper, versetzen den Tanz in frappierende Dauergeschmeidigkeit. Harmonie ist hier nicht Thema, eher die Flüchtigkeit unserer Zeit und auch ihr Gewaltpotenzial: eine Tänzerin wird geschleift, ein Tänzer abrupt gehoben. Wie in Erschöpfung oder Niederlage kommt es schließlich zu einem Stillstand, aus dem heraus sich nochmals ein Duett entwickelt, mit Partnerführung per Kopf und Beinen, die den Körper betasten. Sanftklang wie im Traum  und leises Trappeln lassen den Bewegungssog verebben, ein Mann umrundet das letzte liegende Paar.

Im Zusammenhang mit Loes Schakenbos’ bestrickender Lichtregie gelingt Pokorný, losgelöst von jeglicher narrativen Geschichte, ohne jedoch abstrakt beliebig zu sein, eine atemberaubend dichte, atmosphärisch überwältigende Raumkonstruktion. Dass sie sichtbar von Crystal Pite, in deren Ensemble er mehrere Jahre getanzt hat, beeinflusst ist, tut der choreografisch brillanten Verarbeitung hin zu künstlerischer Eigenständigkeit keinen Abbruch. Brillant auch die Anverwandlung durch die rotgesockten, unisex gekleideten sechs Tänzer und fünf Tänzerinnen der Nordhäuser Kompanie, die wieder schier über sich hinauswächst.

Von ihrem Leiter stammt der zweite Teil des 90-minütigen Programms. Diesmal hat sich Ivan Alboresi „Der Feuervogel“ vorgenommen, Igor Strawinskys Meisterwerk von 1910 für die legendären Ballets Russes. Seither hat die farbige Partitur mannigfache Inszenierungen erlebt, von Maurice Béjart als Interpretation der Titelfigur als welterobernde rote Idee bis zur Besetzung des feurigen Vogels, entgegen dem Original, en travesti mit einem Tänzer bei Dietmar Seyffert und anderswo. Auch Alboresi wählt diesen Weg, löst sich allerdings überwiegend von der märchenhaften Anmutung und verstärkt den Grundkonflikt: den Kampf zwischen Gut und Böse.

Uniform Leidene, die Gefangenen Kastscheis, schlurfen auf Spiegelfolien als Hintergund zu. Auch der Herr des Leidens tritt auf, wirkt jedoch in seinem übergelenkig nach allen Seiten pendelnden Solo eher selbst wie ein Verunsicherter. Dem Zarensohn Iwan erscheinen die inhaftierten Mädchen, auch die Zarewna, als stehende Bilder: Die Spiegelfolien bedecken räumlich flache, später drehbare Kerker-Segmente. Auch der Feuervogel kommt hinzu, schwanenhaft gebrochene Flügel, gezeichnet auf seinen nackten Rücken, kennzeichnen ihn. Über ihn hinweg findet die Prinzessin in fiktivem Tanz zu Iwan, doch ihr Duett hat ein erzwungenes Ende. Da wandelt sich die Szene: Die gedrehten Segmente bilden als rotgeäderte Wand das Reich des Unterdrückers. Darin gleiten die nun langgewandeten Mädchen à la russe als Matrjoschkas mit Lichtkugeln, die, so der Programmhefttext, für ihre gefangenen Seelen stehen und dem Kerkermeister wieder ausgehändigt werden müssen.

Vito Damiano Volpicella (Feuervogel), Thibaut Lucas Nury (Kastschei), Damen Ballett TN LOS!
Humpback Runner, Ballett TN LOS!

Als Iwan der Eintritt in jenes Reich gelingt, kommt es zum rasanten Kampf mit Kastschei und seinem Gefolge, in den auch der Feuervogel eingreift. „MUT“ flammt in vielen Weltsprachen an der Wand auf. Den beweisen indessen die Inhaftierten, indem sie Kastschei in Form von Schnüren die Lebenskraft aus dem Leib ziehen und ihn damit fesseln. Eine lichte Welt tut sich auf, darinnen weiße kostümierte Paare sich tummeln. Durch die Mitte schreitet realistischerweise als das nicht zu tilgende Böse Kastschei auf die Rampe zu, möchte man meinen – es ist jedoch der Feuervogel. Wieder leistet die Kompanie Beeindruckendes in einer akrobatisch aufgerauten zeitgemäßen Tanzsprache, allen voran Vito Damiano Volpicella als filigraner, ungemein flexibler Feuervogel und Thibaut Lucas Nury  als sein ebenbürtiger Widerpart Kastschei. Alboresis Choreografie entbehrt bei aller Fulminanz nicht einiger Längen, um Strawinskys für eine konkrete Geschichte komponierte Musik zu bedienen. Unglückliche Kostümlösungen erschweren namentlich gegen Schlusss die Zuordnung der Figuren. Gerade den „Feuervogel“ aber feierte Sondershausens Publikums mit stehenden Ovationen.