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Muss ein Künstler lügen um der Wahrheit auf die Spur zu kommen?
Im autobiografischen Kontext begibt sich der in Spanien lebende schwedische Choreograf Johan Inger in seiner Choreografie „Peer Gynt“, nach Henrik Ibsens dramatischem Gedicht, zur Musik von Edward Grieg, auf die Suche nach der Wahrheit. Er findet sie nicht. Und das ist gut so. Die Premiere der deutschen Erstaufführung beim Dresdner SemperoperBallett wird euphorisch gefeiert und lautstark bejubelt.
Ibsens Stück beginnt mit den Worten von Mutter Aase: „Peer, das lügst du.“ Peer antwortet, „Nein, es ist wahr.“
Abgewandelt, im biografischen Kontext Ingers, im ästhetischen Kontext dieser so außergewöhnlichen, choreografischen Inszenierung, die vor fünf Jahren ihre Uraufführung am Theater Basel erlebte, könnte es auch heißen: „Peer, das lügst du.“ – „Nein, das tanze ich!
In Johan Ingers mitunter regelrecht kämpferischem Wahrheitstanz wird gleich mal gebrüllt. Mutter Aase ist ein Mann. Der Tänzer Casey Ouzuonis zerrt den kleinen Peer in die Welt und hilft schon mal mit dem Teppichklopfer nach. Vielleicht hätte dieser kleine Peer aber doch noch lieber auf der Blockflöte gespielt. Vielleicht? Vielleicht? – Diese Frage stellt sich immer wieder in dieser rasanten Tanzparade durch die Welten aus Traum und Wahrheit, aus Lügen und Sehnsucht jenes Peer Gynt, mit dessen fiktivem Leben der Choreograf Stationen seines eigenen Weges vermischt und verbindet. Was daran wahr ist oder nicht, am Ende scheint es nicht so wichtig. Denn wie der Tänzer Christian Bauch als Peer sich so mitreißend, mal brüllend vor Komik, mal in verbogener Selbsttäuschung, dann wieder, hoch aufgerichtet, unbeugsam, oder im nächsten Augenblick schon wieder schwankend, oder in voller Kraft voraus auf den schäumenden Wellen unwiderstehlichen Charmes, einen flunkernden Scherzkekses auf Sprungfedern gibt, das ist einfach großartig. Ja er tanzt sich lügend sich durchs Leben. Er kann sich die Versatzteile der Stationen seines Lebens ganz eifach, ja nach Wunsch, aus den Gassen der Seitenbühne ziehen. Er kann sie wieder zurück schieben, verloren geht nichts, denn am Ende wird es wieder da sein, das erste Versatzstück seines Lebens, das kleine Häuschen, wie aus einem Kinderbaukasten der Märchenzeit, als noch alles scheinbar in vorgegebener Ordnung war. Aber dann gibt er darauf nichts. Dann wird es auch gar nicht mehr so leicht sein zu erkennen, wer ist Peer Gynt, wer ist Johan Inger.
Ja klar, als Peer klaut er – wunderbar getanzt von Svetlana Gileva als Ingrid – dem Bräutigam (Vaclav Lamparter) die Braut, um sie gleich darauf zu verlassen.
Ist es dann vielleicht Johan Inger auf seinem Weg in die Tanzwelt, wenn er sich von seiner künstlerischen „Mutter“, Birgit Cullberg, und deren Sohn, Mats Ek, verabschiedet, und eben vor Francesco Pio Ricci als Trollkönig, alias Mats Ek persönlich, und vor dieser von Zarina Stahnke getanzten „Grünen“, diesem Tanzreich der Trolle entflieht, um sich auch künstlerisch endgültig von den didaktischen Vorbildern seiner „Tanzeltern“ zu entfernen. Ein paar erinnernde, tänzerische Grüße gestattet er ihnen aber doch noch.
Manchmal aber muss sich der Choreograf bzw. Peer als Alter Ego zur Besinnung rufen, oder gar aufwecken lassen, wenn die Traumwelten sich zu Lügenburgen aufbäumen. Eigens dafür, am Bühnenportal, neben einer Proszeniumsloge, die nicht zu überhörende Glocke. Und noch so ein Bild der fließenden Übergänge dieses choreografischen, musikalischen Fantasietheaters, bei dem ja sogar scheinbar Zuschauende auch auf der Bühne sitzen. Aber nein, sie werden sich wandeln, diese Sängerinnen und Sänger des Dresdner Sinfoniechores.
Und wer auf die Ohrwürmer der Musik zu „Peer Gynt“ von Edward Grieg wartet, wird nicht enttäuscht, ja sogar überrascht, wenn etwa Peer sich wieder in die Kindheit sehnt und Mateo Jean-Jean Philippe Cigal als kleiner Knopf auf der Blockflöte zarte Morgenstimmung erklingen lässt.
Stefanie Knorr singt und spielt Solveig, sie liebt ihn, er will, dass sie auf ihn wartet, er baut ihr einen Altar aus IKEA-Teilen, sie wird warten, er bricht auf, „außenherum“ – so bei Ibsen, „um die halbe Welt“, nach Marokko, macht kriminelles Geld als Sklavenhändler, will sich krönen lassen, zum Kaiser der Welt.
Die Reise bei Johan Inger führt nach Spanien.
Muss man sich aber etwas dabei denken, wenn er seinen Peer Gynt zwar nicht zu einem klassischen Sklavenhändler werden lässt, aber wenn er nun einfach mal – vielleicht jetzt als Peer Inger – wieder ein Versatzstück aus der nächsten IKEA-Gasse zieht: Ballettsaal, mit Spielgel und Stange. Und die Tänzerinnen reißen sich darum, ihm vortanzen zu dürfen, die liegen ihm zu Füßen, es geht hoch her, jetzt mit Musik von Bizet, Flamenco, »Carmen« – die große Verführerin grüßt den Verführer. Schluss, aus, dunkel! Es reicht.
Jetzt werden die selbsterlogenen Träume dieses Peer, der zu seinem eigenen Totentanzmeister geworden ist, zum Albtraum. Peer wird zum Mörder. Im Affekt versteht sich. Solveig wartet. Die Mutter ist tot. Und wer ist dieser sonderbare Typ, der Krumme, dieser von John Vallejo getanzte Boigen, noch ein Rätsel, noch ein Widergänger? Einst besetzte Peter Stein zu Beginn der 70er Jahre an der Berliner Schaubühne in seiner Inszenierung von Ibsens Dichtung diesen Abenteurer Peer Gynt, der auszog, um die Welt zu erobern, der immer seinem Ich hinterher läuft, mit sieben Schauspielern.
Mitunter möchte man nun meinen Johan Ingers Figuren, mit ihrem Tanz durch die Geschichte dieser zwar wortlosen, dennoch so ausdrucksintensiven Kunst, werden auch immer wieder zu Spiegelungen dieses Lügen-Peers. Und wenn sie es erspüren, dann müssen sie über den Tanz hinaus gehen. Dann müssen sie schreien, denn es genügt eben nicht, sich selbst genug sein zu wollen, es gilt immer wieder auf den fernen Klang zu achten. Hier ist es Solveigs Stimme, sie wartet, sie glaubt diesem Peer, diesem Johan, sie kann damit umgehen, dass Menschen ein Leben lang unterwegs sind, um ihr Leben zu finden, wenigstens für Momente, ganz schnell vergänglich, im Augenblick des Werdens. Und so erschließt sich auch, warum gerade der Tanz so geeignet ist inmitten einer total verlogenen Welt Momente der Wahrheit aufblitzen zu lassen. Ganz gegenwärtig, im Kontext einer Geschichte von vorgestern, und umhüllt von Klängen einer Musik, die auch wie aus der Ferne zu uns herüber klingt. Dass diese Klänge uns erreichen verdankt sich dem Spiel der Sächsischen Staatskapelle unter der Leitung von Thomas Herzog.
Wie war es noch, „Peer, das lügst du.“ – Nein, das höre ich, das sehe ich, das tanze ich. Für Euch!
Boris Gruhl