„Sweet Bones̕ Melody“ Jonas Cook, Ch. Marco Goecke, Foto Carlos Quezada
Kritiken

David Dawson, Alexei Ratmansky und Marco Goecke beim Bayerischen Staatsballett

Berichtet von zwei unserer Top-Journalistinnen

 

Die Taube in der Hand

 

Es war ein aufregender Abend im Münchner Nationaltheater: Der Russe Alexei Ratmansky schwenkte beim Verbeugen unablässig die ukrainische Flagge, Marco Goecke ließ schwarze Asche regnen und versöhnte die ob seines neuartigen Stils zunächst konsternierten, dann zunehmend gefesselten Münchner Zuschauer mit einer weißen Friedenstaube. Im neuen Ballettabend „Passagen“ ging David Dawson mit seiner Uraufführung „Affairs of the Heart“ fast unter – nicht etwa, weil sein Stück keinen Bezug zum Krieg hatte, sondern weil der künstlerische und handwerkliche Unterschied zu den beiden Choreografie-Hochkarätern neben ihm doch beträchtlich war.

„Herzensangelegenheiten“ Ch. David Dawson, Foto Carlos Quezada

Dawsons „Herzensangelegenheiten“ haben ihren Titel von der Musik bekommen, einem Violinkonzert des Kanadiers Marjan Mozetich. So mild wie die Irritationen, die der Komponist in seine ansonsten angenehm melodische, fast romantische Musik einstreut, so muten auch die kleinen Widerhaken an, die Choreograf Dawson in seinem neoklassischen Idiom verteilt: eine kurze Windung im Oberkörper, eine abgeknickte, aber sehr elegant abgeknickte Hand, alles weit entfernt von William Forsythes radikaler, harter Dekonstruktion. Es gibt viele hohe Hebungen, manchmal entstehen Strukturen wie ein weiter Kreis für die sechs Männer oder die sieben Frauen. Die Tänzer blicken meist schräg nach oben ins Leere, Beziehungen untereinander entstehen nicht, es ist ein rein abstraktes Werk in betont schmucklosen, blaugrauen Trikots. Shale Wagman beeindruckt mit einem Joker-artigen, sprungreichen Solo, aber die Bewegung in Dawsons Stück fließt durchweg viel zu gleichförmig, seine Dynamik wirkt fast mechanisch, auch scheint der britische Choreograf kaum Wert auf die Phrasierung einer Bewegung zu legen. „Affairs of the Heart“ ist tanzreich und virtuos, aber was bleibt am Ende? Vielleicht Eno Henzes flächig-farbiges, suggestives Bühnenbild, das von Grün-Pink ins Tiefblau und dann in ein bleiches Grau changiert – auch hier mit milden Irritationen durch geometrische Elemente.

Alexei Ratmanskys Version der „Bilder einer Ausstellung“ entstand 2014 fürs New York City Ballet, er verwendet die originale Klavierfassung von Modest Mussorgskys Partitur. Kinderbunt hinskizzierte Kreise und Quadrate wechseln an der Rückwand mit jeder neuen Szene, Wendall K. Harrington ließ sich für die Projektionen von einer Farbstudie Wassily Kandinskys inspirieren, ebenso Adeline André für die bunten, schleierleichten Kleidchen und durchsichtigen Anzüge. Die lose Folge von Bildern hat einen spielerischen, oft übermütigen Charakter – es ist ein Episodenballett wie die über 50 Jahre alten „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins, an die es auf so vielfältige Weise erinnert. Zu jeder musikalischen Nummer entstehen kleine Geschichten, inspiriert von Mussorgskys Überschriften oder auch nicht – wir sehen Freundschaft, Liebe, kleine Abschiede, Scherze, alles in den unterschiedlichsten Gruppen und Strukturen. Ratmansky choreografiert klassisch, aber mit einem modernen, lockerleichten Anflug – mal ist ein Joggen drin, ein Hocken oder ein Hinausfliegen auf den Schultern eines Partners. Die Ästhetik wirkt verspielt, frei, manchmal fast sportlich.

„Bilder einer Ausstellung“ Ch. Alexei Ratmansky, Foto Sergej Gherciu

Fast wie im berühmten Robbins-Ballett gelingt es Ratmansky, den Tanz so aussehen zu lassen, als entstünde er gerade spontan aus der Musik. Und immer wieder schwebt eine Erinnerung an die alten Ballette durch – eine Hebung aus „La Sylphide“, eine Ahnung slawischer Elemente wie aus „Les Noces“, ein clowneskes Paar à la Harlekin und Columbine, ein wenig Hacke-Spitze-Folklore: Es sind fast nie direkte Zitate, sondern liebevolle Erinnerungen. Indem Ratmansky sie so flüchtig und natürlich integriert, macht er die alten Bilder zu einem festen Bestandteil unserer Ballettsprache. Ein ganz direktes Zitat verbindet sein Stück mit „Dances at a Gathering“, wo ebenfalls fünf Paare einen freundschaftlichen Reigen tanzen: Auch bei Ratmansky schauen sie, genau wie am Schluss bei Robbins, alle fragend in den Himmel und dann berührt jemand nachdenklich den Boden, hier ist es eine Frau.

Der Choreograf schöpft aus einem überreichen Vokabular, es passiert immer wieder Überraschendes. Besonders hübsch sind vor allem die Abgänge der jeweiligen Szenen – da werden die Frauen im hohen Flug hinausgetragen, die Tänzer staksen grotesk von dannen, jede Pose ist eine kleine Pointe. Dramatisch wird es auch, sogar dunkel, in einem sehr gewagten Duo steht die Frau auf der Brust des Mannes und richtet sich hoch auf. Einstudiert wurde das Werk von Amar Ramasar, beim NYCB einst Teil der Erstbesetzung und in München als Einspringer für die zwei verletzte Solisten ein Vorbild für die viel jüngeren, aber lange nicht so lockeren Kollegen – der New Yorker tanzte moderner im Sinne von sportlicher, relaxter, übermütiger.

Den kräftigen Farben der beiden Vorgängerstücke (es ist ein außergewöhnlicher bunter Ballettabend) setzte Marco Goecke, der choreografische Philosoph alles Schwarzen, eine düstere, von Rauch durchwaberte Bühne entgegen, auf der es dunkle Flocken regnet – Asche oder schwarzen Schnee, jedenfalls sieht es nach Apokalypse und Trauer aus. Die dunkel-fantastische Partitur „Mannequin“ der Koreanerin Unsuk Chin erinnert zunächst an die Tintinnabuli-Glöckchen Arvo Pärts und wird dann immer nervöser, gewaltiger, flirrernder; Goecke beschwört dazu eine Beklemmung herauf, die einen viel tiefer trifft, als Ballett das normalerweise vermag. Das vom Ratmansky-Jubel aufgebrezelte Münchner Ballettpremierenpublikum, das auf den hier noch ungewohnten Goecke-Stil zunächst mit Unruhe reagierte, wurde von „Sweet Bones‘ Melody“ regelrecht in den Sitz gebannt.

„Sweet Bones̕ Melody“ Carolina Bastos, Ch. Marco Goecke, Foto Carlos Quezada

Anfangs verhaken sich Einzelne zu Duos oder Trios ineinander, ungewöhnlich nah für Goecke, und doch auf eine merkwürdig distanzierte Art. Seit einiger Zeit entdeckt der Choreograf, der seine Sprache ständig erweitert, auch geometrische Strukturen wie Reihen oder Rhomben, die in flüchtigen Bildern aufschimmern. Bald aber verläuft die Achse stetig von hinten nach vorne, als kämen Flüchtende oder Einzelkämpfer aus der Tiefe nächtlicher, zerstörter Straßenzüge. Udo Haberlands Licht verfärbt sich zu einem bedrohlichen Gelb, die Tänzer tragen irgendwann Mäntel über ihren weiten schwarzen Hosen. Wie verlorene Seelen wirbeln einzelne in irre schnellen Drehungen durch den Rauch, verwandeln die Impulse der flirrenden, bedrohlichen Musik zu nervösen Störfeuern. „Es ist ein Weinen in der Welt“ hallt durch die Nacht, Else Lasker-Schülers Gedicht vom „Weltende“. Kurz vor Schluss löst das Stück dann eine Zeile des Gedichts ein: „Wir wollen uns tief küssen“. Die Weltenangst manifestiert sich im Innersten jedes Einzelnen – Goecke übersetzt die Dichterin aus seiner Heimatstadt Wuppertal in bedrückende Bilder. Am Schluss steht António Casalhino still an der Rampe und reckt uns aus der Dunkelheit eine weiße Taube entgegen, die er fest in den Händen hält. Wird sie losfliegen? Mit dieser Frage lässt uns Goecke alleine.

Angela Reinhardt


Herzensangelegenheiten

Das Bayerische Staatsballett startet in „Passagen“ furios mit neuen Stücken von David Dawson, Alexei Ratmansky und Marco Goecke in die Ballettfestwoche.

Was für ein Drive! Da bricht sich in schlichten Dekorationen bravourös frei – und für das handlungsballettverwöhnte Münchner Publikum in einer doch recht anderen Physikalität als sonst zu erleben – eine unglaubliche Crew ausgewählter Tänzerinnen und Tänzern im zeitgenössischen Duktus dreier völlig unterschiedlicher Stile Bahn. Rein gar nichts ist davon zu spüren, dass Marco Goecke und David Dawson, die zum ersten Mal mit dem Bayerischen Staatsballett gearbeitet haben, während des künstlerischen Entwicklungsprozesses mit Probenunterbrechungen oder Besetzungsausfällen umgehen mussten.

Uraufführung „Sweet Bones̕ Melody“ von Marco Goecke

Eine erste Ladung schwarzer Konfetti liegt schon am Boden, als die riesige Nebelschwade im Raum von einem der Tänzer durchbrochen wird. Raketengleich schießt er aus dem Hintergrund nach vorne, und der Bewegungskosmos um seine Körperachse herum explodiert regelrecht. Bald schält sich aus der Dunkelheit ein weiterer Tänzer. Mit zu Krallen gekrümmten Händen und Armen wie Säbeln wird Unheimliches untereinander ausgefochten. Dazwischen rückt man hautnah zusammen. Plötzlich fingert einer aus der Umklammerung heraus die Rückseite des anderen fast zärtlich suchend nach etwas ab.

Auf das erste lässt Marco Goecke schnell das zweite Duett folgen. Die Männer, jeden Muskel stählern angespannt, kommen zur Gruppe zusammen, ehe die erste von vier Tänzerinnen die weite Arena betritt. Lediglich der schattierte Lichtwechsel von Udo Haberland verleiht dem Ganzen eine atmosphärische Idee von Zerstörung bzw. Bedrohung. Da mögen Schwaden weißen Puders, den Frauen auf nackte männliche Oberkörper klatschen, an im Unbewussten schwelende Sorgen erinnern.

Derzeit gibt es niemanden außer Marco Goecke, der das Publikum choreografisch vom ersten bis zum letzten Stückaugenblick so irritierend krass zu beschäftigen und in seiner inhaltlich von Power nur so strotzenden Verschwommenheit derart subversiv-packend anzusprechen vermag. Seiner allerersten Kreation für das Bayerische Staatsballett mit dem Titel „Sweet Bones̕ Melody“ gelingt eine fantastische Symbiose mit der berückend aufgewühlt vom Bayerischen Staatsorchester live gespielten Orchesterkomposition „Mannequin“ der Südkoreanerin Unsuk Chin.

Das Werk, das in einer reduzierten Besetzung unter der souveränen Leitung von Tom Seligman zu Gehör gebracht wurde, basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ und einer Hauptfigur, die – gefangen wie eine Marionette in einer bizarren Welt aus Ängsten und Visionen – zwischen Wahnvorstellung und Wirklichkeit hin- und hergerissen wirkt. Das klanglich üppige Fundament gibt Goecke eine perfekte Steilvorlage, dass sich elf Interpreten mit sehr individuellen Akzenten auf vollendet krude und unfassbar tiefe Art und Weise tänzerisch ausleben. Da scheint das Herz der auch mal robotrig wie ferngesteuerten Protagonisten bisweilen zu verrutschen und dann weiter im Schritt zu pochen. Immer wieder verzahnen sich einzelne Tänzerinnen und Tänzer – allesamt irgendwie In-Sich-Zerrissene. Sie ziehen ihr Gegenüber an den Wangen zu sich. Oder aber es drängt sie voneinander fort, während einer den Hals des anderen zusammenpresst. Selbst unter Höchstgeschwindigkeit sitzt hier jede Geste, jedes Wirbeln um sich selbst einfach perfekt.

Mittendrin lässt Goecke für die Zeit, die es braucht, damit der Tänzer Florian Sollfrank Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltenende“ vortragen kann, jede Bewegung und den Klang in Stille erstarren. Deutlich zu verstehen wie sonst selten hat Goecke diesmal die einer früheren Zeit entliehenen Worte seinem ihm ureigenen Bewegungskosmos hinzugefügt.

So bringt er am Ende künstlerisch unglaublich gewieft und visuell reduziert auf fast nur Grau-Schwarz alles zuvor Gezeigte auf den gemeinsamen Nenner momentanen globalen Kriegs- und Weltschmerzes: die zu Beginn des Abends – flankiert von herrlicher Farbenpracht – von David Dawson in „Affairs of the Heart“ aufgebotene famose Schönheit tänzerischer Virtuosität und die erzählerische Verspieltheit, mit der Alexei Ratmansky im Mittelteil „Bilder einer Ausstellung“ punktet. Seltsam prallen gegen Ende Lippen für einen Kuss aufeinander und abschließend hält ein Tänzer – es ist Münchens jüngster Shootingstar aus Portugal, António Casalinho – eine weiße Taube in der Hand. Sie darf kurz aufflattern, losfliegen aber nicht. Noch nicht?

Uraufführung „Affairs of the Heart“ David Dawson

Was für ein Gegensatz zu David Dawsons Uraufführung „Affairs of the Heart“, die den Abend in einer formalen Opulenz aus bloß körperenergetischem Kreisen und den Raum vereinnahmenden Spiralen auf das Wunderbarste eröffnet hatte. Sieben Tänzerinnen und fünf Tänzer werden hier vor einer Palette wechselnder, geometrisch gefasst über Wände kriechender Farbnuancen einfach grandios zum Fliegen gebracht. Musikalisch war dies teils noch etwas wackelig – wohl aufgrund einer kurzfristigen Umbesetzung beim 25-minütigen titelgebenden „Konzert für Violine und Streichorchester“ des kanadischen Komponisten Marjan Mozetich.

Immer wieder ziehen ihre ausdrucksstark ungewöhnlich abgewinkelten Hände die Aufmerksamkeit auf sich. Ganz en passant, als wäre das innerhalb einer schon brisanten Dynamik überhaupt nichts, werden Hebungen und technisch irre Figuren in das unaufhaltsame Fließen der Choreografie eingewoben. Aus zahlreichen Begegnungen und offenen Paarbeziehungen entsteht – emotional bewusst abstrakt – eine an Nuancen beeindruckend reiche, lebhaft pulsierende Seelenlandschaft. In ihrer Fülle ist diese auf Anhieb unmöglich ganz zu erfassen. Was man mit nach Hause nimmt? Eine bildstarke Hommage an die Kraft des umsichtigen Miteinanders und der Liebe.

Deutsche Erstaufführung von Alexei Ratmanskys „Bilder einer Ausstellung“

Alexei Ratmanskys fröhlich-freches Stück zu Modest Mussorgskis Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ aus dem Jahr 2014 passt sich da bestens als verbindendes Glied ein. Zehn Protagonisten sind es lediglich, die der Choreograf hier auf eine leichtfüßig-verspielte Promenade schickt. Ein kurioser Weltenbummel. Obwohl der 30-Minüter auf klassischer Balletttechnik basiert, werden die Tänzer durch quirlige Sprünge, schnelle Drehungen, schwierige Hebungen, neuartige Schrittkombinationen, zeitgenössische Port de bras sowie hier und da kleine Twists ständig aufs Neue aus ihrer Komfortzone gestoßen.

Von Szene zu Szene nehmen seine Tänzerinnen und Tänzer – als Einspringer darunter (für die erkrankten Prinzipals Osiel Gouneo und Yonah Acosta) Ratmanskys Ballettmeister Amar Ramasar – an Fahrt auf. Sie formieren sich zu einer neugierig aufgelegten Mannschaft und exerzieren – zuweilen solistisch – eine Reihe kurioser Geschichten durch, mitunter von märchenhaften Charakteren wie einem weiblich besetzten zornigen Gnom oder der hier von einem Mann getanzten Hexe Baba Jaga. Verführerisch kindlich in seinem prompten Elan und stets im Einklang mit der Musik, die ihnen den Rhythmus, die Melodie und Stimmung von himmelhoch jauchzend bis zu hinterhältig oder kollektiv betrübt vorgibt.

Kandinskys ideengebende „Quadrate und konzentrische Ringe“ tanzen via Projektionsdesign im Hintergrund mit. Angekommen beim finalen „Großen Tor von Kiew“ schweben sie wie Ballons, dann wie Sterne über einen blauen Himmel. Für München setzt der Choreograf als letzten Höhepunkt ein symbolisches Zeichen obenauf: Die Farben zerfließen zu einem blauen und einem gelben Streifen. Genau wie die ukrainische Fahne, die Ratmansky beim Schlussapplaus hartnäckig schwenkt, während seine Interpreten vom Publikum zu Recht bejubelt werden. Zu Putins Angriffskrieg hat der künstlerisch schon lange in Amerika verankerte Ratmansky – als gebürtiger St. Petersburger mit Familie in der Ukraine, wo er einst im Nationalballett als Solist tanzte – bereits im Vorfeld klar Stellung bezogen.

Vesna Mlakar