Yannis Brissot und Mei Chen. Fotos von Andrea D’Aquino
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„Brahms – Glaube Liebe Hoffnung“

Es ist ein musikalischer Kerngedanke, den Johannes Brahms 1876 mit gegen die Pauke ankämpfenden Violinen immer wieder – manchmal einem sanften Vulkanausbruch gleichend – nach oben drängen lässt in seiner 1. Sinfonie. Eine Sinfonie, an der er 14 Jahre unter dem Eindruck des als Sinfonie-Genie bekannten Beethoven arbeitete. Wohl nicht nur für Laienohren hört sie sich perfekt an und bildet zusammen mit „Adagio for Strings“ von Samuel Barbers ein klassisches Musikbett für ein weiteres Vorgehen, besser: Vorangehen von Guido Markowitz auf einem Aufsehen erregenden Ballett-Parkett. Für das der Pforzheimer Ballettchef wohlgemerkt keine 14 Jahre, sondern lediglich die dringliche Heftigkeit einer in den Lockdown verbannenden Pandemie  brauchte. Guido Markowitz hat aus der Not eine Tugend gemacht. Das muss man vorausschicken, wenngleich die Vorschusslorbeeren sich auch als mehr als verdient erweisen bezüglich des jüngsten Streaming-Projekts. Das wird vermutlich jeder bestätigen, der die Entwicklung der Compagnie am Stadttheater Pforzheim verfolgt. Nach „Being Human“ (einem filmischen Reenactment der Ballettaufführung „Die vier Jahreszeiten“ an verschiedenen Aufführungsorten) setzt der Ballettdirektor mit seinen Tänzerinnen und Tänzern sowie den Videobildnern und Tanzregisseuren Philip Contag-Lada und Michael Maurissens den Weg der Verknüpfung von Tanz und Film in einer neuen Kreation fort. Mit Live-Musik: Die Musiker der Badischen Philharmonie Pforzheim unter Leitung von Generalmusikdirektor Robin Davis agieren nicht nur professionell, sondern auch als lebendige Hintergrundkulisse. Eine Kulisse, vor der sich unter dem Titel „Brahms – Glaube Liebe Hoffnung“ Szenen des allgegenwärtigen Lebens von Anbeginn der Menschheit abspielen.

Hyeon-Woo Bae, Mei Chen und Eleonora Pennacchini (von links)
Willer G. Rocha

Es ist das Bibelzitat „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die größte von ihnen“, das Guido Markowitz zu seinem Kerngedanke werden lässt mit der Ausarbeitung dieser knapp eine Stunde dauernden Streams. Übrigens raffiniert dargeboten: Zu der Aussicht auf das gesamte Bühnengeschehen werden immer wieder kleine Fenster mit Nahaufnahmen eingeblendet, was den Zuschauer mit einer Art Lupe auf die einzelnen „Fasern“ des ausdrucksvollen Tanzes schauen lässt. Aus der Not wird eine Tugend, so nutzt das Team um den Ballettchef das Medium, um den Zuschauer ganz nah herantreten zu lassen. Yannis Brissot etwa lässt sich dabei zuschauen, wie er – in Zeitraffer dargestellt – hinter der geschminkten, getünchten Fassade des Darstellers des Glaubens verschwindet. Glaube, Liebe, Hoffnung: Es ist indessen der Glaube, den Guido Markowitz in den Mittelpunkt dieser Inszenierung stellt. Yannis Brissot verkörpert den irrlichternder Glauben sehr emotional, sehr ausdrucksstark, sehr deutlich. Nicht minder eloquent kommen die mit roten Streifen (Blutflecken?) auf weißem Kleid sachte wie eine Schneeflocke dahintreibende Liebe (Mei Chen) und die mit kükenartigen und weniger zum Fliegen, denn zum Auf-dem-Boden-Dahineilen geeigneten Flügeln ausgestattete Hoffnung (Hyeon-Woo Bae). Sie „zoffen“ sich nicht bis aufs Blut, aber sehr wohl zerren Glaube, Liebe, Hoffnung aneinander herum, schieben, schubsen, umarmen sich – sehr oft findet sich „Glaube“ in der Mitte, was offenbar auch zu verwirrenden, zappelnden Reaktionen führt. Mitunter ist auch ein Hauch von Wut zu spüren. Und genau das sind die zentralen Fragen, die aus Sicht von Guido Markowitz quasi den Tanz-Boden bilden: Warum wird aus Glaube Wut? Was ist der Glaube, wenn er ohne Liebe ist? Wird das Ganze dann hoffnungslos? Um es vorweg zu nehmen: Flehende Gesten sind es, die „Glaube“ am Ende der Inszenierung, mit einem Haufen (belastender) Steine auf dem Arm, mit verbundenen Augen und einem wie ein Hoffnungs-Strahlenkranz um das Haupt schimmernden Accessoire.

Yannis Brissot und Mei Chen

Aus dem Dunkel immer wieder auftauchende „Störenfriede“ könnten die widerstreitenden Gefühle, nach dem besten Weg suchende Gedanken sein. Ihre Einmischung sorgt für die abwechslungsreiche „Fülle“ auf der Bühne. Sie machen im Übrigen faszinierende Mutationen durch, aus zwei Körpern wird ein einziger, der sich mit tentakelartigen Gliedmaßen vorwärts zu tasten scheint. Der ganz in egozentrischer Körperpflege versinkende Glaube wird also vielen Strömungen ausgesetzt. Die ganze Bandbreite an stockenden, dynamischen, fließenden, dahin fließenden Tänzen werden meisterhaft von einer nicht minder interessanten Licht-Choreografie garniert, umspielt, in leuchtende Szene gesetzt, ins schemenhaft machende Dunkel gestoßen. Die naturgemäß überbordende Liebe wird in ihre Schranken gewiesen, gleichwohl erhebt sich der Glaube aus seinem erschöpften Vorwärtskriechen am Boden – nach der Liebe rufend. „Ich weiß, dass du da bist. Verlass mich nicht!“ Seine Rufe verhallen, die Antwort bleibt ungewiss. Das Ende bleibt offen, der Zuschauer aber weiß und würde es am liebsten zurufen: Die Liebe ist bereits in dir! Du musst sie nur zum Leben erwecken. (Geplant sind weitere filmische Produktionen; so darf im Herbst damit gerechnet werden, dass es weitere interessante Einblicke – auch aus Sicht der Tänzerinnen und Tänzer – geben wird. Und noch einmal öffnet sich der Vorhang: Das Streaming-Projekt „Brahms – Glaube Liebe Hoffnung“ soll übrigens noch einmal im Internet für Zuschauer zur Verfügung gestellt werden. Ein genauer Termin steht noch nicht fest. Mehr Informationen unter www.theater-pforzheim.de

Susanne Roth