„High Moon“, Ch. Virginie Brunelle © Jeannette Bak
Kritiken

Bolero, Blues und Bräute

Die Gauthier Juniors rocken in Stuttgart auch ihren zweiten Premierenabend

von Angela Reinhardt

Dank Eric Gauthiers Hartnäckigkeit kann Stuttgart inzwischen auf drei feste Tanzkompanien stolz sein – eine ziemlich tolle Leistung, blickt man etwa ins fast doppelt so große Köln, wo man die eine, die man hatte, wieder aufgelöst hat und für weitere drei Jahre ganz ohne dastehen wird. Seit einem Jahr gibt es die Gauthier Juniors, gegründet nach dem Vorbild des NDT 2 und diverser anderer Juniorkompanien, jetzt bringen sie auch in ihrer zweiten Premiere ihre freche Jugend, ihren Sturm und Drang ein. „Dream Team“ heißt der Abend, eigentlich war der wesentlich längere Titel „Something old, something new, something borrowed, something blue“ vorgesehen – Kenner romantischer Filmkomödien wissen, dass Bräute nach englischer Tradition mit diesen vier Dingen versorgt werden.

Fotos:  © Jeannette Bak 

„Jardi tancat”, Ch. Nacho Duato

„Something old“ ist in diesem Fall das Stück „Jardi tancat” des spanischen Altmeisters Nacho Duato, genauer gesagt das allererste Werk seiner langen Karriere, vor über 40 Jahren entstanden fürs NDT 2 zu melancholischen Lieder der Sängerin Maria del Mar Bonet. In den Braun- und Orange-Tönen der warmen, staubigen Erde schauen drei Paare aus ihrem „geschlossenen Garten“, denn das bedeutet der Titel, sehnsüchtig aufs Meer hinaus, hoffen auf Regen, bearbeiten den Boden. Noch vermisst man das weiche Fließen in den Körpern, vor allem in den Rücken, dieses Sich-in-die-Musik-Schmiegen, das Duato damals von seinem Direktor Jiří Kylián übernommen und bei all seiner persönlichen Entwicklung beibehalten hat. Vielleicht braucht man doch erfahrenere Tänzer für das Dulden, die Müdigkeit und Intensität dieser armen, aber stolzen Menschen. Was für eine milde Ironie des Schicksals, dass Duato für sein erstes Stück Musik einer Kämpferin gegen die Franco-Diktatur wählte und nun sein Vollzeitgehalt in Putins Russland verdient. Aber wer gut choreografiert, dem wird in der Tanzstadt Stuttgart alles vergeben; Marco Goecke, der gerade ein weiteres Stück für Gauthier vorbereitet, wurde bei der Premiere sehr viel lauter begrüßt als die versammelte Politprominenz.

„The Blue Brides“, Ch. Barak Marshall

„Lickety-Split“, Ch. Alejandro Cerrudo

Der „blaue“ Beitrag zum Abend stammt vom neuen Hauschoreografen Barak Marshall, der in „The Blue Brides“ drei verlassene Bräute am Altar zeigt – und ihre kleinen Horrorgeschichten. In ironischen, gern ins Absurde gleitenden Bildern erzählt der Amerikaner mit israelischem Hintergrund von Lügen, Einsamkeit, Desillusion, Eifersucht und Rache. Getanzt wird barfuß zu flotten, oft nostalgischen Liebesliedern, Marshall liebt theatralische Effekte und hat einen tiefschwarzen Humor. Zu jeder Hochzeit gibt es eine kleine Ansprache, allein das Aufbauen des jeweiligen Pults dazu ist herrlich abstrus. Auch in seinen rasanten Stil mischen sich immer wieder sprechende Gesten, ein wenig Gesellschaftstanz, die breitbeinig-erdverhaftete israelische Folklore. Das ist bewegungstechnisch sicher keine bahnbrechende Avantgarde, macht aber sehr viel Spaß, und der Tanztheater-Einschlag fordert die Persönlichkeit der jungen Tänzer.

 „Something borrowed”, etwas Geliehenes, stammt aus dem Programm der „Hauptmannschaft”, wie Gauthier seine große Kompanie nennt: Alejandro Cerrudos „Lickety-Split“ hatte dort 2011 so wenig Eindruck hinterlassen, dass es einem brandneu vorkommt. Auch hier erklingen Songs, dieses Mal vom „Freak Folk“-Songwriter Devendra Banhart. Zu ihnen hinterfragt der spanische Choreograf, der inzwischen das Charlotte Ballet in North Carolina leitet, mit ironischem Augenzwinkern ein paar Mann-Frau-Klischees. Neben zwei, drei originellen Duos und einem frechen Solo für den virtuosen Rong Chang, der an diesem Abend genau wie der vom Boden schnellende, intensive Joan Jansana Escobedo heraussticht, bleibt immerhin gute Unterhaltung übrig.

Da alle sechs Tänzer in jedem Stück auf der Bühne sind, verschafft ihnen ihr Chef mit zwei eingespielten Podcasts kleine Verschnaufpausen zwischendurch. Im zweiten davon entlockt er den vier Choreografen des Abends das tragikomische Statement, dass sie alle irgendwie unglücklich mit dem Tanz sind – und auf keinen Fall davon lassen können.

„High Moon“, Ch. Virginie Brunelle

Die Kanadierin Virginie Brunelle, die bisher bei Gauthier Dance durch sensibles In-sich-Hineinhorchen auffiel, überrascht in ihrer Uraufführung „High Moon“ mit einer Art Techno-Bolero, musikalisch für sie arrangiert von Laurier Rajotte: als hätte jemand Maurice Ravels Welthit im Berliner Berghain-Club angezündet. Anfangs unheimlich herausgeleuchtet aus dem Dunkel, gibt es für die eher casual gewandeten Tänzer nur eine einzige Richtung, wie auf dem Laufsteg immer wieder von hinten aufs Publikum zu. Sie trippeln, schreiten, präsentieren sich, fallen in kurze Ekstasen, wenden Blick und Arme nach oben, bilden manchmal eine Art herabstürzende Laokoon-Gruppe. Es ist ein fetziges, voguendes Stück mit einer herzhaften Prise Sharon Eyal, perfekt für die Juniors – und bereits der zweite „Bolero“ in ihrem Repertoire nach der Trampolin-Version von Andonis Foniadakis bei ihrem Debüt. Nächstes Jahr soll dann Ohad Naharins Fassung folgen – bei dieser Juniorkompanie geben sich wirklich die großen Namen die Klinke in die Hand.