© DACM / Gisèle Vienne Foto: Estelle Hanania
Spezial

Berlins Werkschau zu Gisèle Vienne

Die Melancholie der Pubertät

Besonders als Teenager sei „dein Körper das Schlachtfeld zwischen der normativen politischen Gesellschaft und deiner persönlichen Erfahrung“, sagt Gisèle Vienne. Choreografie sei „eine Form des Schreibens mit Körpern in Raum und Zeit“, wobei sie „Körper“ nicht nur auf pulsende Organismen bezieht. Was das Wirken der österreichisch-französischen Choreografin und Regisseurin, die, 1976 geboren, Musik, Tanz, Philosophie und Puppenspiel studiert hat, so einzigartig macht, ist gerade der Einsatz von lebensgroßen Puppen auf der Bühne zusammen mit Menschen. Anhand dieser Kunstgeschöpfe und ihrer Körperlichkeit macht sie Verhaltensweisen und Machtmechanismen sichtbar. Zwei Berliner Ausstellungen würdigen derzeit Viennes Œuvre aus 25 Jahren mit repräsentativen Ausstellungen. Setzt das Georg Kolbe Museum eine zentrale Werkgruppe von Vienne in Beziehung mit von Puppen inspirierten Arbeiten avantgardistischer Künstlerinnen, zeigt das Haus am Waldsee eine Installation aus Exponaten, die früheren Stücken entstammen.

© DACM / Gisèle Vienne Photo: Mathilde Darel

Eine Lesende wendet hier gleich im Foyer dem Betrachter ihren Rücken zu. Von weißem Grund aus blickt im Nebengelass eine Liegende dem Besucher fragend, beinah anklagend in die Augen; abgeschirmt im Raum dahinter ein Bett, darauf lagern schutzsuchend dicht beeinander zwei Mädchen, zu ihren Füßen und sitzend an die Wand gelehnt weitere Paarungen, umgeben von verstreuten Gegenständen. Den Raum daneben füllen 13 Glassärge mit hingestreckten, rockig oder brav kostümierten Puppen, weggesperrt, isoliert, hilflos. Zwischen Unschuld, Verunsicherung, Angst, auch Protest changieren dann die auf mehrere Räume verteilten 63 Porträts von überwiegend sehr jungen, allesamt bleichen Mädchen-Konstruktionen.

Was sich an den Kunstwesen der Ausstellung andeutet, der Widerstand Jugendlicher gegen die Erwartungen einer dominanten Umgebung, führt Gisèle Vienne in den Sophiensaelen ins Menschliche verlängert vor. Ihr Stück „Crowd“ lässt dort 90 Minuten lang 15 halbwüchsig scheinende Akteure beiderlei Geschlechts extrem langsam und ruckhaft durch eine Welt irren, in der sie nach Geborgenheit und Liebe suchen, die indes nur Chaos und Kälte zu bieten hat, aber auch Solidarität entstehen lässt. Nur einmal entladen sich zu Technorhythmen unterdrückte Gefühle, ehe alle erschöpft zu Boden sinken. Immer wieder arbeitet Vienne mit stehenden Bildern, die wie choreografische Tableaux anmuten. Eine so beeindruckende wie nachdenklich stimmende Kunst über Genregrenzen hinweg.

Volkmar DRAEGER