Angels' Atlas, Ch. Crystal Pite (im Bild Alexander Jones und Sujung Lim) Foto Carlos Quezada
Kritiken

Beflügelnd und beglückend: Angels’ Atlas im Opernhaus Zürich

Das Ballett Zürich startet mit zwei großen Namen der internationalen Ballettwelt – Crystal Pite und Marco Goecke – in die Saison 21/22. Die ganze Company auf der Bühne im voll besetzten Haus hebt ab mit einer Fülle an Bewegungsreichtum, Emotionen und purer Energie.
Zwischen der Wiederaufnahme von “Emergence” und der Europa-Premiere von “Angels’ Atlas” der kanadischen Choreografin Crystal Pite ist Marco Goeckes “Almost Blue” zu erleben, einstudiert von Fabio Palombo. Marco Goecke und Christian Spuck verbindet eine lange Freundschaft: Gemeinsames Tanzen und Jammern in Stuttgart zu Beginn ihrer Karrieren verpflichtet.

So waren denn Marco Goecke und Dackel Gustav über viele Jahre gern gesehene Gäste im Zürcher Opernhaus, und das Publikum ist nach “Deer Vision”, “Petruschka” und “Nijinsky” auch vertraut mit Goeckes ureigenem Stil.
“Almost Blue” – ein bisschen traurig – ist ein Understatement, denn dem letzten Stück in Stuttgart, als 2018 sein Vertrag als Hauschoreograf nicht verlängert wurde, sieht man die Wut und Verzweiflung, den Schmerz und die Trauer förmlich an. Schüsse fallen, Rauch breitet sich aus und Jan Casier steht allein auf der Bühne, zuckt und zittert, wutentbrannt und schmerzverzerrt. Seine flatternden Arme stecken in langen schwarzen Handschuhen, sodass vor dem schwarzen Hintergrund nur Kopf, Torso und Armstümpfe zu sehen sind, wie bei griechischen Marmorstatuen. Ein packendes Bild für die aufgezwungene Handlungsunfähigkeit!

 

In Kombination mit den melancholischen Songs der Transgender-Ikone Anohni, als diese noch Antony Hegarty hieß und New York mit seiner eigenartig brüchigen Stimme verzauberte, lastet eine Schwere und Leere auf dem ersten Teil des Stücks für neun, vor allem solistisch agierende, Tänzer/innen. Humor – dafür wird Marco Goecke im Studio und in den Rauchpausen besonders geschätzt! – blitzt trotzdem auf: in Gesten, Geräuschen, Kostümen und Küsschen. Erst nachdem viel Dreck vom Bühnenhimmel auf den -boden gefallen, der Bühnenraum ausgeräuchert und “At Last” der Blues-Legende Etta James zu hören ist, entspannt sich die Situation. Raumgreifende Bewegungen, Battements und Sprünge, ein energetisches Duo von Giulia Tonelli und Mark Geilings eröffnen neue Wege. In der Tat ist Marco Goecke nach “Almost Blue” dann auch als Ballettdirektor nach Hannover gegangen, hat während der lähmenden Corona-Pandemie ein Stück nach dem anderen kreiert und weitere Auszeichnungen erhalten, und die Brücken nach Stuttgart seien auch wieder aufgebaut. Dennoch bleiben Wunden, aber Herzblut ist gut für die Kunst.

 

Und hohe Kunst, große Klasse, und große Gruppen dazu, ist das, was es von Crystal Pite zu sehen gibt!
2018 arbeitete Pite erstmals mit dem Ballett Zürich zusammen und beglückte die Company und das Publikum mit ihrem Meisterwerk “Emergence” (2009), diesem Feuerwerk an Energie, Gewalt und Schönheit. Damals entstand die Idee für ein neues Stück, das in Koproduktion mit dem National Ballet of Canada entstehen sollte, die Premieren in Toronto und Zürich kurz hintereinander im Frühling 2020. Corona machte der Zürcher Premiere einen Strich durch die Rechnung, aber das raffinierte Bühnenbild resp. Lichtkunstwerk von Pites Bühnenbildner und Lebenspartner Jay Gower Taylor wurde zusammen mit dem Lichtdesigner Tom Visser in den Werkstätten in Zürich entwickelt. Es spielt hinter und über dem Ensemble die Hauptrolle und stiehlt den 37 Tänzer/innen manchmal fast die Show. Denn was da in “Angels’ Atlas” mittels Licht und Spiegelfolien auf den Bühnenhintergrund gezaubert wird, gleicht einer Offenbarung, ist einfach überirdisch schön und lässt einen direkt aus dem Haus ins Universum entschweben, von der bekannten Topografie der Erdoberfläche und dem Theatersessel hin zum Unbekannten, zu den Engeln und noch weiter, wären da nicht die Bewegungen und die Körper der Tänzer/innen, die meist einen einzigen Körper bilden und sich in einem nie versiegenden Bewegungsfluss befinden.

Während in der Lichtskulptur die physikalischen Gesetze ausgehebelt scheinen und Tschaikowskis “Cherubinische Hymne” erklingt, geht es auf dem Bühnenboden ganz physisch zu und her.

Was Crystal Pite an kanonartigen oder gänzlich synchronen Sequenzen für Gruppen zu choreografieren vermag, wie sie mit Fülle und Leere spielen und intime Pas de Deux’ kreieren kann, ist kaum in Worte zu fassen. Aber auch das kann sie: “Ich stelle mir den Körper gerne als einen Ort vor, an dem das Sein angehalten und geformt wird. Auf diese Weise gibt der Tanz dem Unbekannten eine Form. Im tanzenden Körper erscheint das Unbekannte als etwas sowohl Vertrautes als auch Aussergewöhnliches, und wir erhaschen vielleicht einen Blick auf etwas ewig Gültiges. Tanz und Tänzer sind ihrer Endlichkeit vereint, aber gerade dadurch bekommt ihre Schönheit eine Bedeutung.”

“Angels’ Atlas” ist wunderschön, aber auch himmeltraurig. Die Sterbeszenen von Lucas Valente und Giulia Tonelli sowie von Francesca dell’Aria und Jan Casier sind ergreifend. Ein Abschied, ein plötzlicher Tod, die Gruppe erstarrt in Trauer und Schmerz. Gut, sorgt da der Komponist Owen Belton mit pulsierenden elektronischen Klängen für eine tragende Tonlandschaft zwischen den Chorälen zu Beginn und am Schluss (“O Magnum Mysterium” von Morten Lauridsen) des Stücks.

Wunderbar gerät die Gruppe wieder in Bewegung, markiert den Herzschlag mit den Armen, verbreitet diesen bis in die Zehenspitzen, wirbelt die Lebensenergie immer weiter, Trauernde und Tröstende gleichsam umfassend, aufrichtend und erdend. Das in einer unsicheren Zeit und einer ungewissen Zukunft zu sehen, tut gut und macht Mut.

Christian Spuck ist es in seiner zweitletzten Saison, bevor er nach Berlin weiterzieht, erneut gelungen, einen beglückenden dreiteiligen Ballettabend mit zwei hochkarätigen zeitgenössischen Choreografen zusammenzustellen. Crystal Pite und Marco Goecke – so unterschiedlich die beiden in choreografischer Hinsicht sind, vor allem in der Inszenierung des Individuums und der Gruppe sowie der Darstellung von Emotionen und Geschichten, so verbindet beide das gezielt eingesetzte Licht und natürlich auch der meist in Lichtgeschwindigkeit dargebotene Reichtum an feinteiligen, präzisen Bewegungen. Aber das ist kein Problem für das ebenfalls hochkarätige Ballett Zürich.

Evelyn Klöti

Ballett Zürich - Rehearsal Trailer - "Almost Blue" by Marco Goecke