L’Heure exquise“ von Maurice Béjart mit Alessandra Ferri und Carsten Jung © Kiran West
Kritiken

Die große Alessandra Ferri in “L’Heure exquise”

Alles, alles sieht man auf diesem Gesicht: eine vage Hoffnung, das Wissen um die verlorenen Illusionen, das Warten auf den Tod – und das junge Mädchen von damals, zu dem sie mit einen einzigen glücklichen Lächeln wieder wird. Im vierzigsten Jahr ihrer Bühnenkarriere hat die große italienische Ballerina Alessandra Ferri ein altes Werk von Maurice Béjart wieder ausgegraben, mit dem die immerhin 58-Jährige nun von Ravenna aus auf Tournee geht; am Wochenende gastierte sie im kleinen, wunderhübsch altmodischen Stadttheater von Baden-Baden. Eingebettet war der Auftritt ins Gastspiel des Hamburg Ballett, das seit 23 Jahren ins Festspielhaus der Schwarzwaldstadt kommt und nun im Vorgriff auf ein angekündigtes, von John Neumeier kuratiertes Tanzfestival dort zum ersten Mal auch andere, kleinere Säle bespielt. Neumeiers ehemaliger Erster Solist Carsten Jung ist Ferris Partner in dieser getanzten Adaption eines Schauspiels von Samuel Beckett: Dessen „Glückliche Tage“ zeigt uns das Ehepaar Winnie und Willie, sie ist zunächst bis zur Hüfte, dann im zweiten Akt bis zum Hals unbeweglich in einem Erdhügel eingegraben. Ihr einsilbiger, kaum sichtbarer Gatte versorgt sie mit Nachrichten und reicht ihr die Dinge des Alltags.

Bei Maurice Béjart, der genau wie John Neumeier so viele Stoffe in die Ballettwelt verlegte, ist es kein Erdhügel, sondern ein Berg aus Ballettschuhen, in dem die Protagonistin feststeckt – eigentlich kein Hügel, sondern ein weiter, runder Reifrock, ein prächtiges Ballkleid aus glänzenden Spitzenschuhen, den zertanzten Schuhe einer langen Karriere. Winnie, hier trägt sie keinen Namen, ist eine alternde Ballerina, die sich mit Hilfe ihres Partners zurück träumt ins Rampenlicht, in die alten Schritte, in die Erinnerung an Stange, Training, tägliche Arbeit, Auftrittsnervosität – und vor allem in das Glück des Tanzens. Entstanden ist Béjarts Stück einst 1998 für die damals 62-jährige Carla Fracci und den ehemaligen Béjart-Tänzer Micha van Hoecke, beide sind in diesem Jahr gestorben. 2002 wurde „L’Heure exquise“, „Die erlesene Stunde“, noch einmal mit Maina Gielgud und Martyn Fleming einstudiert. Béjart wollte, dass die Ballerina viel von sich selbst einbringt, über sich selbst spricht, ihre Schritte aus den liebsten Balletten zitiert. Ansonsten hielt sich der Choreograf erstaunlich eng an Becketts Stück, in den zahlreichen Requisiten etwa, die die Ballerina, perfekt auf die Musik choreografiert, aus ihrer großen Handtasche zieht – nur ist hier neben Puderquaste und Revolver auch eine Rose dabei, das Zeichen der Verehrung.

© Kiran West

Natürlich steckt die Protagonistin hier nicht fest, der Rock öffnet sich und der Mann trägt sie auf seinem Rücken nach vorne, wird dafür getätschelt wie ein braver Hund. Er bringt sie auch immer wieder zurück, stellt sie vorsichtig wieder hinein in den riesigen Berg, wo sie wie lebendig begraben scheint. Er ist ein merkwürdiger Charakter, erscheint zunächst grob und gelangweilt, grunzt bei seinen Fitnessübungen. Aber er gibt voll Liebe den Clown für sie, zaubert ihr die Ballettwelt hin, holt eine Stange und den Kolophoniumkasten, küsst ihr immer wieder zart die Hände oder auch die Füße. Carsten Jung macht das wunderbar, er hält sie behutsam in ihren Posen und lässt sie sanft hinaufschweben – vielleicht genau für dieses gelöste, erfüllte Lächeln, das dann auf ihrem Gesicht erscheint. „The footlights“ ruft sie anfangs: das Rampenlicht – Ferri und Jung sprechen die Dialoge in Englisch. Sie legt Spitzenschuhe an, winkt neckisch über die Rampe und träumt sich zum langen, melancholischen Adagio aus Mahler 4. Sinfonie in ihre Vergangenheit zurück. Und als wäre Ferri die letzte der großen Tanzaktricen, sieht man hier noch einmal diese unglaubliche Fähigkeit der großen Legenden, mit einer einzigen Bewegung zum jungen Mädchen zu werden, mit 58 Jahren wie eine 17-Jährige zu winken, zu lachen, zu tanzen. Mit ihrem Partner, der sich im zweiten Akt in einen Smoking wirft, wird die Ferri zum Revuepaar, kokettiert wie Zizi Jeanmaire und wirbelt sekundenlang im schwerelosen Tanz über die Bühne. Bevor wieder einer dieser angstvollen Blicke in die Ferne geht, wie man sie von Béjart kennt…

© Kiran West

Ein wenig wirkt das Stück wie ein Nachklapp zu „Die Stühle“ nach Eugène Ionesco, von Béjart 1984 für Marcia Haydée und John Neumeier geschaffen – aber zerfahrener in der Struktur, mit Brüchen und Lücken, die man darauf schieben mag, dass sich der Choreograf zu eng an die Struktur der Schauspielvorlage hielt, in der es um die ewig enttäuschte Illusion des Wartens geht, eines von Becketts zentralen Themen. Steif wie eine Puppe, eine absurde Coppelia, wird die Ballerina am Schluss tatsächlich unbeweglich und sagt, von ihrem Partner wieder in den Rock hineingestellt, nur noch mechanisch einen Text auf: “Heure exquise – qui nous grise – lentement – la caresse – la promesse – du moment“. Ihn spricht auch Becketts Winnie am Schluss auf Englisch, es ist die Übersetzung von „Lippen schweigen, ‘s flüstern Geigen“ aus der „Lustigen Witwe“ von Franz Léhar, die Melodie klingt sehr leise herein. Die Tänzerin erstarrt und wird in ihrem Spitzenschuhkleid, das kommt bei Beckett so nicht vor, gewissermaßen zur Ikone – und wir als Publikum setzen mit unserem begeisterten Applaus das I-Tüpfelchen auf Becketts Absurdität, weil wir genau das Geräusch produzieren, das einst der krönende Abschluss ihrer glücklichen Tage war. Und über aller Bewunderung für die große Alessandra Ferri fragt man sich, warum wir heute so viele abstrakte Bewegungsstudien sehen, warum kaum ein Choreograf mehr diese philosophischen Stücke, dieses weise Tanztheater im Grenzbereich zum Schauspiel macht.

Angela Reinhardt