von Evelyn KLÖTI
Die „Giselle“ von Patrice Bart geht in ihre dritte Saison. 2015 in der Ära von Christian Spuck in Zürich uraufgeführt, 2019 wiederaufgenommen und mit Spuck nach Berlin gereist, programmiert Cathy Marston, auf ihre Weise auch eine Erzählerin romantischer Geschichten, die urromantische „Giselle“ für die Saison, in der Patrice Bart 80 Jahre alt wird. Gespannt ist man vor allem auf das Rollendébut von Max Richter, der non-binären Persönlichkeit der Company, und wie das diverse Ensemble den herausfordernden „Ballettklassiker“ meistert.
Traditionell ist die Inszenierung des Ballettmeisters der Pariser Oper, und das Publikum schätzt sie. Barts Choreografie nach Jean Coralli und Jules Perrot ist so auch im Repertoire vieler grosser Häuser. In Zürich tanzte Yen Han, bereits gegen das Ende ihrer langen Karriere, eine berührend fragile Giselle, und Polina Semionova gastierte als energiegeladenes Bauernmädchen, die den Verstand verliert. Max Richter wirkt im ersten Akt in ihrer Rolle noch etwas verhalten. Es scheint, als ob sich die Solisten nicht ganz wohl in der etwas angestaubten Fassung fühlen, sind sie es sich doch von Marston her gewohnt, die Gefühle einer Figur individueller auszudrücken. So wirkt die herkömmliche Pantomime zwischen Albrecht (Brandon Lawrence) und Giselle etwas aufgesetzt. Einzig Karen Azatyan als Hilarion braucht nicht viel zu machen, um der Rolle des eifersüchtigen Bewerbers Konturen zu verleihen. Durchbrochen wird die Erzählung von effektvollen Tänzen der Winzerinnen und Winzer. Wei Chen und Nancy Osbaldeston geben einen technisch soliden Bauern-Pas-de-deux. Mit viel Prunk und zwei echten afghanischen Windhunden tritt Bathilde auf: Mélanie Borel, seit fast zehn Jahren in dieser Rolle, und es geht rasant auf die Scène de Folie zu.
Max Richter, Brandon Lawrence, Ballett Zürich & Junior Ballett © Gregory Batardon
Max Richter gelingt es hervorragend zu zeigen, wie der Liebesverrat von Albrecht Giselle erschüttert, wie der Wahnsinn von ihr Besitz ergreift und sie zerstört. Vor ihrem Tod flackern – wie fremdgesteuert – puppenhaft wirkende Wili-Sprünge auf. Und im zweiten Akt ist Max Richter richtig, richtig gut. Technisch sicher und vom Ausdruck her wirklich wie aus einer anderen Welt auftauchend tanzen Giselle und Albrecht gegen die Macht der 20 männervernichtenden Geisterwesen an. Auch dem ersten Solisten Brandon Lawrence, ein toller danseur noble, gelingt es, die tiefe Tragik Albrechts leichtfüssig und glaubhaft zu vermitteln.
Elena Vostrotina als Myrtha © Gregory Batardon
Elena Vostrotina – wie immer souverän in Technik und Ausdruck – gibt eine dominante und kalte Myrtha. Nicht nur ihr, sondern dem ganzen Corps de Ballet muss man ein Kränzchen winden, denn der ganze zweite Akt besticht durch Präzision, was das Publikum durch Zwischenapplaus verdankt. Einstudiert hat die „Giselle“ Raffaella Renzi, Maestro Patrice Bart hat ihr während einer Woche den letzten Schliff gegeben. Der Drill hat sich gelohnt. Den Blumenstrauß, den ihm Max Richter am Schluss im Parkett überreicht, nimmt das Urgestein der Pariser Oper unter großem Applaus für die Gesamtleistung dankend entgegen.