von Evelyn Klöti
Unter dem Titel „Timekeepers“ präsentiert Cathy Marston am Opernhaus Zürich eine kontrastreiche und spannungsgeladene Triple Bill. Die drei Musikstücke sind alle in den 1920er-Jahren entstanden und rücken das Klavier ins Zentrum – ein hämmerndes, explosives Klavier als Zeitmesser einer aus den Fugen geratenen Zeit zwischen den Weltkriegen. George Antheils „Ballet mécanique“, berühmt geworden durch Fernand Légers experimentellen Stummfilm, George Gershwins „Rhapsody in Blue“, arrangiert für zwei Flügel, und Igor Strawinskys „Les Noces“. Nur bei letzterem ist auch die Choreografie 100 Jahre alt. Bronislawa Nijinskas Werk hat Ballettgeschichte geschrieben und ist – einstudiert von Royal Ballet-Master Christopher Saunders – erstmals in der Schweiz zu sehen. Diesem Monument der Moderne voran gehen zwei Uraufführungen: „For Hedy“ von Meryl Tankard und „Rhapsodies“ von Mthuthuzeli November. Beide kreieren zum ersten Mal für das Ballett Zürich, das an diesem Abend mehr als einen Spagat machen muss.
Alle Fotos: © Gregory Batardon
„Timekeepers“ beginnt mit einem Geniestreich der australischen Choreografin Meryl Tankard. Sie rückt nämlich die Hollywood-Diva Hedy Lamarr – souverän verkörpert von der Solistin Shelby Williams – in den Fokus. Die gebürtige Wienerin, damals die schönste Frau der Welt, war 1933 im tschechischen Spielfilm „Ekstase“ hüllenlos zu sehen, was für Aufruhr sorgte. Sie, die später in Hollywood über ihr Schauspielerinnen-Dasein sagte, jedes Mädchen könne glamourös sein: „Du musst nur still stehen und dumm dreinschauen.“, war jedoch keineswegs unterbelichtet, sondern auch Erfinderin. Mit dem Komponisten George Antheil, dem „enfant terrible“ der amerikanischen Musikszene, erfand sie nämlich im Zuge der Aufführungen des „Ballet mécanique“ (UA 1926 in Paris), das nebst Sirenen, Propellern und Perkussion 16 mechanische Klaviere synchronisieren sollte, das Frequenzsprungverfahren, das im Zweiten Weltkrieg beim Lokalisieren von Torpedos eine Rolle spielen und später der Telekommunikation mit GPS, Bluetooth und Co. den Weg weisen sollte.
Das „Ballet mécanique“ in der Fassung von Paul Lehrmann für einen Solopianisten (Guy Livingstone, live auf der Bühne) und ein Acousmonium, einem Orchester aus Lautsprechern, ist Meryl Tankard „ein perfekter Ausdruck für die verrückte Welt, in der wir gerade leben. Da ist alles drin. Das Chaos, die Wut, aber auch die Anstrengung, das Bemühen, eine Harmonie oder ein normales Leben zu erreichen.“ Und Tankard gelingt es perfekt, den Taumel der Kriegszeit auf der einen Seite und den Glamour der Filmindustrie auf der anderen Seite auf die Bühne zu bringen.
Mittendrin Shelby Williams als Femme Fatale in einem langen schwarzen Kleid (Kostüme: Bregje van Balen), umgarnt und drangsaliert von Männern – Hedy Lamarr hatte insgesamt sechs Ehemänner – und doch immer selbstbestimmt. Die Tänzerinnen und Tänzer überschlagen sich, marschieren, schreien und stürzen zu Boden, angetrieben durch das hämmernde Klavier, die dröhnenden Sirenen. Über die Leinwand flimmern Nervenzellen, Trümmerlandschaften – ein Video von Régis Lanzac, dem Partner von Meryl Tankard, das dem Bühnenbild von Magda Willi Bewegung verleiht. Und wenn am Schluss Hedy Lamarr ohne Perücke auf das Publikum zuwankt, blitzt die ganze Melancholie, aber auch Kraft dieser Frau auf. Shelby Williams, die Pina/Malou im „Café Müller“ von Pina Bausch getanzt hat, deren Muse Meryl Tankard einst war, macht das ganz wunderbar.
Der Kontrast zwischen der Hollywood-Diva und der Bauerntochter in „Les Noces“, die zwangsverheiratet wird, könnte nicht grösser sein. Igor Strawinskys Komposition (dirigiert von Sebastian Schwab) ist eine Wucht, die komplexe Choreografie von Nijinskys genialer Schwester ist der Hammer, wenn wohl auch ein Albtraum für die Tänzerinnen und Tänzer, die sie lernen und interpretieren müssen, was dem Ensemble aber gut gelungen ist. „Les Noces“ mit den bäuerlichen Kostümen und dem minimalistischen Bühnenbild von Natalia Goncharova, der Abwesenheit von Mimik bei gleichzeitig höchst bewegtem Corps de Ballet brennt sich allen ins Gedächtnis ein, nun auch in Zürich.
Choreografisch und geografisch liegen Welten zwischen den beiden grossen Choreografinnen Bronislawa Nijinska (1891-1972) und Meryl Tankard (*1955), exzellent sind sie beide. Und die beiden Stücke, die das Patriarchat deutlich kritisieren, passen gut in unsere Zeit und bilden einen wuchtigen, aber auch schwierigen Rahmen für den südafrikanischen Newcomer Mthuthuzeli November.
„Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich als junger schwarzer Mann aus Südafrika einmal Rhapsody in Blue choreografieren würde“, sagt November im Gespräch mit Dramaturg Michael Küster, „denn normalerweise komponiere und arrangiere ich die Musik selbst, zu der ich choreografiere.“ Der angesagte und preisgekrönte Tänzer und Choreograf hat Gershwins bekanntes Musikstück so auch um ein eigenes ergänzt: Rhythmen und Gesänge aus Südafrika, die Eingang finden in die klassische Bewegungssprache. Spitzenschuhe trommeln, Hände klatschen, Finger flattern – die Bühne ist in Rot getaucht. Herzstück von „Rhapsodies“ ist eine Tänzerin aus dem Junior Ballett: Nehanda Péguillan. Das Energiebündel mit südafrikanischen und französischen Wurzeln gibt den Takt vor in einem leichten und vielleicht etwas gefälligen Stück, mit dem Mthuthuzeli November das Ballett Zürich beglückt hat. Das Publikum dankt es ihm mit dem wärmsten Applaus des Abends.
Vielleicht ist gerade dieses Stück, in dem die Tänzerinnen und Tänzer ihre unterschiedliche Herkunft und kulturelle Prägung in einem rhapsodischen Moment der Gemeinsamkeit am entspanntesten ausleben können, ein hoffnungsvolles Zeichen in unserer krisengeschüttelten Zeit.