von Evelyn Klöti
Die Saison 2023/24 markiert mit Cathy Marston, der neuen Direktorin des Balletts Zürich, den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der Compagnie. Ein Aufbruch zu neuen Ufern? „Walkways“ – Gehwege – der Titel ist programmatisch, und die Fortbewegung, das Quer-über-die-Bühne-Gehen, verbindet die drei für Marstons Premiere im Opernhaus Zürich gewählten Stücke: „Infra“ (2008) von Wayne McGregor, ihr „Snowblind“ (2018) und die „Glass Pieces“ (1983) von Jerome Robbins. Leider keine Neukreation, aber die Triple Bill – das Drei-Gänge-Menü – ist gut gewählt, und jeder Gang ist lecker. Die Tänzer und Tänzerinnen (alle auf Spitze) überzeugen alle.
Die britische Choreografin, die schon länger in der Schweiz wirkt, hat 19 neue Tänzerinnen und Tänzer mitgebracht, denn viele der alten Garde sind Christian Spuck nach Berlin gefolgt, darunter auch einige Publikumslieblinge. Aus 3000 Bewerbungen habe sie eine Auswahl treffen müssen, so Marston. Zuerst schaue man auf technische Brillanz im klassischen und zeitgenössischen Repertoire, halte aber auch Ausschau nach diversen Menschen, die Talent für ihre narrativ-dramatische Arbeit mitbringen und die sich gegenseitig beflügeln.
Einige Mitglieder der Compagnie – unter anderem der erste Solist Brandon Lawrence – haben am Opernhaus-Fest (16. 9.) bereits eine Premiere der anderen Art gemeistert. Die Balletttänzer traten nämlich auf dem Platz vor dem Opernhaus zu einem improvisierten Dance-Battle gegen bzw. mit Cracks aus der Urban Dance-Szene an. Das war mutig und grossartig – grenzüberschreitende Duos aller Berührungsängste zum Trotz!
Fotos: Carlos Quezada
Das 2008 von Wayne McGregor für das Londoner Royal Ballet choreografierte und allseits geschätzte Stück „Infra“ leitet den Abend kühl, aber doch unter die Haut gehend ein. Unter der LED-Leinwand, auf der sich Figuren kreuzen, aber nicht begegnen, interagieren die Tänzerinnen und Tänzer in virtuosen Pas de Deux‘ miteinander. Technische Brillanz, Dehnbarkeit und Tempo herrschen vor, eine strenge Kühle, die in einem wunderbaren Kontrast zur warmen Streichmusik von Max Richter steht. Kostbar und traurig der Moment am Schluss, als Max Richter, die tolle neue Tänzerin, nicht der Komponist gleichen Namens, ganz allein auf der Bühne steht und alle gehetzt an ihr vorbeigehen. Innehalten und lauschen, was sich unter – Infra! – der Oberfläche regt.
Ein feines Sensorium für Gefühlswelten und menschliche Beziehungen hat Cathy Marston. „Snowblind“ ist sozusagen die Kurzgeschichte nach dem Roman „Ethan Frome“ von Edith Wharton und stellt die narrative Hauptspeise des „Walkways“-Dreigängers dar. 2018 für das San Francisco Ballett choreografiert, legt Marston den Fokus ganz auf eine tragisch endende Dreiecksbeziehung in einem amerikanischen Dorf zu Beginn des 20. Jhs.. Ethan, ein einfacher Farmer, getanzt von Charles-Louis Yoshiyama, leidet unter seiner hypochondrischen Ehefrau Zeena (Shelby Williams) und verliebt sich in ihre Cousine Mattie (Dores André). Der entflammten Leidenschaft folgt ein misslungener Doppelsuizid – bei einer Schlittenfahrt im Roman, bei „Snowblind“ im Schneegestöber, wobei neun Schneeflocken leider noch lange keinen Schneesturm evozieren können. Zurück bleiben ein nach wie vor passiver Mann, eine neu gelähmte und gebrochene junge Frau und eine über sich hinauswachsende Ehefrau – aneinander gekettet zu einem beweglichen Trio. Die drei neuen Solisten überzeugen in diesem Mini-Erzählballett von Cathy Marston: „Alle drei werden in einer schicksalhaften Dreiecksbeziehung zusammengeschweisst, und ich fand es faszinierend zu sehen, wie sich aus dieser Abhängigkeit eine besondere Art von Koexistenz entwickelt. Diese Verschränkung von Liebe, Abhängigkeit, Mitleid und gescheiterter Hoffnung hat mich als Choreografin inspiriert.“ Für die Musik ist wie bei fast allen Choreografien von Marston Philip Feeney zuständig. Es gelingt dem Komponisten sowie dem musikalischen Leiter der Philharmonia Zürich, Daniel Capps, eine emotional dichte Partitur aus Werken von Amy Beach, Arthur Foote und Arvo Pärt zu weben, prominent am Klavier: Yulia Luisi-Levin.
Ein Anliegen der neuen Ballettdirektorin ist es, beim Publikum das Bewusstsein für bedeutende Errungenschaften der Ballettgeschichte zu schärfen. Das ist Marston mit dem dritten Stück „Glass Pieces“ von Jerome Robbins mehr als gelungen. Zwar ist es das älteste Stück des Abends, bereits 1983 von Jerome Robbins zu der mittlerweile berühmten Minimal Music von Philip Glass für das New York City Ballet choreografiert, aber diese Mischung zwischen Klassik und jazzy Modern Dance wirkt immer noch frisch! Und in Zürich ist es nach „In the Night“, noch in der Ära Spoerli, erst der zweite Robbins.
Die „Glass Pieces“ sind ein Geschenk für Zürich und die köstliche Nachspeise des „Walkways“-Premierenabends: eine wunderbar bunte dreistöckige Torte, bestehend aus 41 von insgesamt 50 tollen Tänzerinnen und Tänzern. Man schaut ihnen – und insbesondere dem Solistenpaar Elena Vostrotina und Brandon Lawrence im grossartigen Pas de Deux im zweiten Teil der „Glass Pieces“! – gebannt und gut gelaunt zu. Das Publikum dankt es Cathy Marston und dem Ballett Zürich mit warmem Applaus.