"The Smaller Room and Other Stories", Ch. Quirin Brunhuber © Jochen Klenk
Kritiken

Von Forsythe bis Flamenco

Soiree der Akademie des Tanzes Mannheim

von Volkmar DRAEGER

Das Theater, in dem Schiller auf der Flucht aus Stuttgart 1782 seine „Räuber“ mit starker Resonanz uraufgeführt hatte, ging 1943 im britischen Bombenhagel unter. Mannheims Stadtväter beschlossen daher einen Neubau, der 1957 eingeweiht werden konnte. Trotz zwischenzeitlicher Überholung ist das erklärte Kulturdenkmal am Goetheplatz offenbar in die Jahre gekommen und muss sich seit 2022 eine Generalsanierung unterziehen, die voraussichtlich fünf Spielzeiten währen wird. Die Vorstellungen von einem der größten und ältesten kommunalen Repertoiretheater Deutschlands laufen bis dahin in Interimsspielstätten. So haben ab Februar 2023 im Alten Kino Franklin, einst Lichtspielhaus der US-Army und erreichbar per Tram, Schauspiel und Tanz eine vorübergehende Heimat gefunden. Dorthin, gelegen in einem neu entstehenden, entsprechend noch im Werden begriffenen Stadtteil, hat es auch die Akademie des Tanzes mit ihrer alljährlichen Soiree verschlagen. Elterliche, verwandtschaftliche, befreundete und einfach nur tanzbegeisterte Fans füllten an einem regnerischen Juniabend die Tribüne des nüchternen Zweckbaus. Geboten wurde ihnen in der Verantwortung von Schulleiterin Agnès Noltenius ein imponierend vielseitiges Zwei-Stunden-Programm.

Die gern für Tanz genutzte, bereits im Vorjahr von der Absolventin Charlotte Fenn choreografierte Polonaise aus Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“ leitete die Leistungsschau ein: als raumfüllendes Defilee aller Studierenden, mit exakten Ports de bras und sauberen Verbeugungen, indes noch etwas verhalten in der Ausstrahlung. Für die Klassen 1 bis 7 im Vorstudium haben sein Leiter Yuhao Guo und Michelle Grabowski auf Teile einer  marschbasierten Folk Song Suite von Ralph Vaughan Williams als „Hop, Skip, and a Jump“ ein fröhlich bewegtes Tableau mit Hüpfern, Kette und raschen Wechseln gestellt. Die fleißige Einstudierungsarbeit sah man den jungen Interpreten noch an. Das leitete nahtlos zur Klassik über. Gleich drei Lehrende bewährten sich da in der Adaption des Bauern-Pas de six aus „Giselle“. Inmitten der souverän agierenden Freundinnen wussten in den Solovariationen und der Coda die charmant gestaltende Lara Ern aus dem Masterstudium und, mit präzis gelandeten Double-Lufttouren, Xuehao Zhao aus Klasse IV als ihr Partner auf sich aufmerksam zu machen.

Fotos © Jochen Klenk

„Connected“, Ch. Juliano Nunes

Wie viel Spielfreude besonders russische Folklore abverlangt, weiß, wer deren große staatliche Ensembles kennt. Ein Wiedersehen mit „Schwätzerinnen“, einem Meisterwurf des 1975 verstorbenen, leider zu selten gezeigten Leonid Jakobson, hat in der Einstudierung von Alexander Kalibabchuk die Akademie des Tanzes beschert – und damit auf ganzer Linie gewonnen. In roten Stiefeln und bunten Röcken ging ein Mädchenquintett der Klasse II gewinnend und temporeich ganz in den Rollen liebenswerter Klatschbasen auf. Auch die vier Jungen der Klassen III und IV können zufrieden sein: Eric Blanc hat sie in seiner Fassung des reich battierten Pas de quatre aus Petipas „Raymonda“ bestens präsentiert, mit guten Double-Lufttouren und im spielerischen Kontakt miteinander. Weniger erhellend fiel „The Smaller Room and Other Stories“ als umfängliches Pausenfinale aus. Laut Programmtext befasst sich Quirin Brunhuber, auch er ein Eigengewächs der Akademie, darin mit der „Essenz menschlicher Beziehungen“, zu Musik von Chopin und vom Choreografen selbst. Für die acht Mädchen der Klassen III bis V immerhin die Möglichkeit, sich in freier Gestaltung auszudrücken.

„Hop, Skip, and a Jump“, Ch. Yuhao Guo mit Michelle Grabowski
„El Ciclo“, Ch. Silke Beck

Durchgängig gelungen dann die drei Beiträge im Teil nach der Pause. Sich an einem Werk  von William Forsythe zu schulen, ist immer ein Gewinn. Agnès Noltenius erarbeitete mit neun Studierenden der Klassen III bis V einen Ausschnitt aus „Approximate Sonata“, kreiert in dieser revidierten Version 2016 immerhin für die Pariser Oper und zu Thom Willems Elektrodengeknister. Namentlich Ines Esteve als Partnerin des vielbeschäftigten Xuehao Zhao bestach durch Spreizfähigkeit und das Spiel mit Verzögerungen vor der tänzerischen Attacke. Silke Beck und dem Live-Gitarristen Rainer Hawelka verdanken rund 20 Studierende der Klassen III und IV eine beeindruckende Auseinandersetzung mit dem Flamenco aus einem Lichtkreis heraus, zwischen der Spannung einer geballten Gruppe, synchronen Armführungen, gemeinsamen Palmas und dem Ausbruch ins machtvolle Zapateados-Gewitter. Wie viele Nationen sich auch hier friedlich im Tanz finden, ist eine der hoffnungsvollen Botschaften dieser Soiree. Und ebenso, dass die Akademie des Tanzes offenbar ein fruchtbarer Boden für angehende Choreografen ist. Denn auch der Brasilianer Juliano Nunes absolvierte 2012 mit einem Master die Mannheimer Schule, tanzte in verschiedenen Kompanien – und entwarf als „Connected“ zu Musik u.a. von Ezio Bosso ein so tänzerisches wie unangestrengt erfundenes Finale von Format. Es schärft Raum- und Partnergefühl, bietet ohne inhaltliche Befrachtung einfach puren Tanz und vermittelt in den zarten Passagen gleichsam etwas Tröstliches in bedrängten Zeiten. In einem Solo konnte mit überaus prägnantem Körpereinsatz Nikita Gaćinović überzeugen.

Resümee dieses Abends: Absolventinnen und Absolventen mit breiten tänzerischen Fähigkeiten entlässt die Akademie des Tanzes in die Praxis, ihre weitere Zukunft ist dann auch dem Zufall anheimgestellt. Und weil nichts perfekt ist, sei zumindest angemerkt: das kleine Programmheft hätte dringend einer sprachlichen Durchsicht bedurft.