Ob Tanzschule oder Club: die Ballroomszene leidet
Man kann sich nicht erinnern, dass etwas den Künsten und vor allem dem Tanzen so geschadet hat wie das Corona-Virus. Zumindest seit Pest und Cholera aus unserer Welt verschwunden sind, hat es keinen derartigen Lockdown ganzer Länder gegeben über so einen langen Zeitraum. Die Menschen müssen sich in ihre eigenen vier Wände flüchten vor dem Virus. Und das droht unsichtbar überall. Tanz, vor allem Gesellschaftstanz aber ist eine Angelegenheit zwischen Menschen, ein Beziehungsspiel mit vielen Facetten, das nun monatelang ausgesetzt werden musste. Fieberhaft haben die Verbände Hygienekonzepte entwickelt, die einen sehr reduzierten Betrieb der Clubs und Tanzschulen wieder möglich machen. Tanzschulen teilen das Parkett mit Absperrseilen in einzelne, nummerierte Flächen auf, und den Paaren wird eine Nummer zugewiesen, ebenso wie ein Tisch. Erst verlegte man sich auf das Lateintanzen, das eine weniger enge Haltung erfordert. Nun ist auch Standardtanzen wieder möglich mit einem Abstand von 1,50 Meter zwischen den Paaren – allerdings ohne Partnerwechsel. Ein Partner am Tag ist die Regel. Doch ob das wirklich hilft, eine Ansteckung zu vermeiden, wenn man am nächsten Tag mit einem anderen tanzt? Das ist wohl eher Augenwischerei…
Große Sprünge und Posen, wie Weltmeister Dmitriy Zharkov und Olga Kulikova sie vor dicht
gedrängtem Publikum zeigen, gibt es auf absehbare Zeit nicht mehr im Tanzsport. GOC 2019, Foto Ute Fischbach-Kirchgraber
Tanzschulen haben trotz zunehmender Lockerungen immer noch schwer um ihr Überleben zu kämpfen. Wenn auch der Allgemeine Deutsche Tanzlehrerverband für seine ADTV-Schulen viele Hilfen bereitgestellt hat – von der Erarbeitung eines Hygienekonzepts bis zu digitalen Unterrichtsfilmen, mit denen während des kompletten Lockdowns zumindest eine Fortführung begonnener Kurse möglich war. Dennoch kommt es zu schweren finanziellen Einbußen. Auch wenn die Kunden meist sehr verständnisvoll waren, gestaltet sich die Lage schwieriger. Die Angst vor einer zweiten Welle ist groß, und einige kündigen deswegen.

Derzeit werden kaum neue Kurse gehalten, denn die Tanzlehrer führen unterbrochene Unterrichtseinheiten weiter, sogar mit zeitlichem Mehraufwand. Wegen der kleineren Teilnehmerzahlen müssen sie Kurse teilen und daher länger arbeiten – für dasselbe Geld. Nicht absehbar ist, welche Folgen es weiterhin haben wird, dass eine ganze Generation Jugendlicher weggebrochen ist. Es gab keine Jahresabschluss-Bälle mehr, folglich bleiben Jugendliche den Tanzkursen fern. Daher fehlen nun im Herbst Kunden für einen weiterführenden Unterricht. Einziger Lichtblick: auch wenn viele ihre Hochzeit in der Hoffnung, dann groß feiern zu können, auf nächstes Jahr verschoben haben, buchen sie nach wie vor Hochzeits-Tanzkurse.

ADTV-Tanzschulen haben eine solide Basis. Wenn bislang kein einziger ADTV-Tanzlehrer arbeitslos war, so können derzeit doch nicht alle Ausgebildeten mit einer Anstellung rechnen. Weniger Kundschaft bedeutet eben weniger verfügbare Arbeit.
Doch die Lage für freie Tanzschulen oder Spezialtanzstätten gestaltet sich noch sehr viel schwieriger. So machen die ersten Milonga-Bars bereits dicht. Lehrer für Tango Argentino haben keine Schüler mehr, auch nicht im Mutterland dieses hochemotional erotisch aufgeladenen Tanzes. Die ganze Szene ist mit dem Lockdown aus der Öffentlichkeit verschwunden. Ob sie sich von diesem Schlag je wieder zu alter Pracht erholen wird, ist sehr fraglich.
Freude und Spaß an der kundigen Bewegung zu Musik sind ins Stocken geraten. Das gilt auch für die auf Leistung ausgelegten Tanzclubs. Dort durften erst nur Paare aufs Parkett, die in einem Haushalt zusammenleben, also kein doppeltes Sicherheitsrisiko darstellen. Weitere Lockerungen gab es danach für feste Paare, die nicht zusammen wohnen, auch sie durften frei trainieren. Um einen Cubbetrieb aufrechterhalten zu können, hat der Landestanzsportverband eine Software entwickelt, in der die Paare Trainingszeiten, sogenannte Slots, in ihrem Tanzclub anmelden müssen. Jedem Paar stehen in Bayern derzeit drei Trainingseinheiten pro Woche zur Verfügung, also dreimal je eine Stunde mit einer anschließenden Viertelstunde zum Lüften. Mehr ist in der abendlichen Haupttrainingszeit kaum möglich. Glücklich die Tänzer, die ausweichen können auf Vormittag und Nachmittag. Da gibt es mehr Raum-Kapazitäten, so dass man schon mal auf fünf Trainingstunden in der Woche kommen kann. Engagierte Turniertänzer bräuchten natürlich wesentlich mehr Zeit auf der Fläche.
Wenn der Club über mehrere Räume verfügt, um so besser. Mehr als vier Paare dürfen es nicht sein, also in jeder Ecke eines, so dass man sich nicht zu nahe kommt. Solches Training lässt jedoch kaum die Einübung der Turniersituation zu. Die Practises, die den Ernstfall simulieren, sind gecancelt. Dazu kommt, dass auch der zur Verfügung stehende Raum viel zu klein ist, um entsprechend ausgreifend trainieren zu können.
Der Gruppenunterricht wurde anfangs wie bei den Tanzschulen ins Internet verlegt, was jedoch niemals die Präsenz des Trainers vor Ort ersetzen kann. Inzwischen dürfen die Trainer wieder live aufs Parkett. Dabei haben die lateinamerikanischen Tänze gegenüber dem Standardbereich einen Vorteil: hier ist man nicht in das Korsett einer festen Haltung eingebunden, sondern kann side-by-side-Aktionen üben. Mit solchem Training lassen sich locker Monate füllen.
Die Teilnehmerzahl der Gruppentrainings ist natürlich begrenzt. Allerdings stellt sich in der Praxis heraus, dass ohnehin viele Paare nicht mehr ins Training kommen und womöglich die Tanzschuhe an den Nagel hängen. Nur der harte Kern der Turnierpaare, die es wirklich wissen wollen, stellt sich noch dieser Herausforderung. Denn ein Aspekt fällt völlig flach: die soziale Komponente. Sich im Training zwischendurch etwas zu erholen und sich mit anderen zu unterhalten, ist nicht mehr. Man ist ohnehin angehalten, bereits in Trainingskleidung zu erscheinen, denn die Garderoben werden gerade erst wieder geöffnet – dürfen allerdings wie die Toiletten auch immer nur von einer Person betreten werden. Die anderen müssen unter Einhaltung der Abstandsregelung und mit Mundschutz versehen warten.
Das Hygienekonzept sieht natürlich viele Putzarbeiten vor. Doch es gibt keine Putzfrauen rund um die Uhr. Folglich sind die Tänzer aufgerufen, gerade am Wochenende einzuspringen, damit der Trainingsbetrieb weiterlaufen kann. Noch finden sich genügend solidarische Menschen, die mit den passenden Trainings-Slots am späten Abend vor dem Putzen oder am Morgen gleich danach belohnt werden. Aber die Suche wird zäher. Die um Hilfe bittenden Mails nehmen zu.
Tanztrainer können zwar wieder Privatstunden geben, doch unter erschwerten Bedingungen: sie tragen Maske und dürfen nicht in Haltung gehen mit ihren Schülern, dürfen diese nicht anfassen, und so fehlt es an einer entscheidenen Vermittlungsmethode. Haptisch lassen sich Muskelkontraktionen, Rotationen und sich entfaltende Kräfte weitaus leichter begreiflich machen als in der Theorie. Kommt dazu, dass natürlich auch sämtliche Turniere gestrichen sind – in den meisten europäischen Ländern. Einen zaghaften Anfang machte Spanien im Juli mit einem Jugendturnier in Barcelona, bei allerdings verschwindend geringen Teilnehmerpaaren (bei zwei Turnieren trat nur ein einziges Paar an, die Höchstzahl waren vier). Die Slowaken ließen ebenfalls die Jugend tanzen. Die Tschechen und Polen packten zur Jugend auch Seniorenturniere mit rein. In größerem Maßstab tanzte man nur in Bosnien-Herzogowina, wo gleich 29 internationale Paare in der Hauptgruppe Standard antraten. Gefahrlos sind solche Veranstaltungen sicher nicht. Andernorts werden bereits auf den November verlegte Ausweichtermine wieder abgesagt. Fast alle Meisterschaften fallen heuer aus.
Es gibt also auch keinen Anreiz für die Paare, Stunden zu nehmen, um für ein wichtiges Turnier fit zu sein. Das bedeutet, dass alle Trainer, die nicht fest für einen Club arbeiten und daher von diesem unterstützt werden, wesentlich weniger Schüler haben. Da gibt es einige, die kaum mehr über die Runden kommen. Denn die so gelobte staatliche Unterstützung für Solo-Selbstständige ist natürlich nicht dazu gedacht, dass diese Menschen ihre Miete zahlen können und Essen auf dem Tisch haben. Sie dient nur für betriebliche Ausgaben – also für Saalmieten beispielsweise. Erhalten werden nur Betriebsstätten, nicht Menschen. Dass der Unterhalt eines Körpers auch eine betriebliche Ausgabe sein kann, wenn denn der Trainer davon lebt, dass er mit seinem Körper unterrichtet, spielt keine Rolle.
Einen Gewinn in dieser Lage haben allerdings Paare, die gerne Stunden bei einem Top-Trainer nehmen, da sind derzeit Unterrichtsstunden leichter zu ergattern. Denn diese Tops müssen den Ausfall an Stunden irgendwie wieder hereinholen und sind nun verfügbar. Konflikte gibt es aber, weil die Clubs ihre Flächen natürlich nur für die eigenen Paare reservieren und Fremdpaare – auch nicht wie bisher gegen Gebühr – nicht zugelassen werden.
Je länger dieser Zustand andauert, desto frustrierender ist er für alle Tanzbegeisterten. Denn was sollen Paare trainieren, wenn die Basis, der sportliche Vergleich mit anderen, wegfällt? Man könnte nun darangehen, generell die Bewegungskultur zu steigern und nicht nur Effekte, um im Turnier aufzufallen. Die künstlerische Seite des Tanzens könnte im Vordergrund stehen – die zumindest in der Amateurwelt der World Dancesport Federation keinen hohen Stellenwert hat. Das rächt sich nun, denn sonst hätten die Paare jetzt weiterhin einen Anreiz, sich im Training zu entwickeln.
Und vielleicht liegt auch eine Chance in diesen reduzierten Tanz-Bedingungen. Denn die Clubszene mit ihren oft rund um die Uhr vorgehaltenen Trainingsmöglichkeiten hat die Tänzer verwöhnt. Sie palavern endlos auf der Fläche, kriegen sich in die Haare, um das Funktionieren von Figuren, um die Oberherrschaft des Herren, der die tänzerische Führung auch auf andere Bereiche ausdehnt, wo sie nichts zu suchen hat. Wenn man wie in anderen Ländern (beispielsweise England) sich für ein freies Training jeweils die Fläche mieten müsste, dann sähe das ganz anders aus. Da kann man sich schon vorab zu Hause im Wohnzimmer des Funktionierens einer Figur versichern, um dann auf dem Parkett das zu tun, für das es vorgesehen ist: nämlich durchzutanzen. Der derzeit fehlende Biss im Training könnte so wettgemacht werden. Schließlich liegt der Wert des Tanzens ja im Tanzen selbst. Tanzen ist keine Ware, wie bisweilen angenommen, sondern eine Lebenshaltung. Es geht nicht darum, in den jeweiligen Klassen zu bestehen – worauf manche Trainer ihre Paare trimmen -, sondern wirklich tanzen zu lernen.
Ute Fischbach-Kirchgraber
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