„Wonder“/“Wonder“, Ensemble, Foto: Martin Sigmund
Kritiken

Tanz voller Hoffnung

von Alexandra KARABELAS

Durch welche Komponenten gewinnt etwas in dem Sinne Bedeutung, als es als „Etwas“ bezeichnet werden kann und somit im Kopf von Zuhörenden oder Lesenden eine klare Vorstellung entstehen lässt? Der Installationskünstler Joseph Kosuth reichte den gemeinen Kunstliebhaber*innen hierfür im Jahr 2000 fünf Worte an die Hand – „Sechs Teile, lokalisiert“, wie er sein konzeptionelles Werk in Leuchtschrift betitelte –  aus denen sich die Bedeutung eines Werks speise: „Ort“, „Geschichte“, „Teile“, „Kontext“ und „Einheit“. Sie fallen einem wieder ein und sie funktionieren auch in den ersten Minuten, als sich in Pforzheim nochmals der Vorhang für Gil Kehrers „Wonder“ hebt, der letzten Uraufführung eines internationalen Gastchoreografen in dieser Spielzeit, die Guido Markowitz ́ Truppe in Pforzheim auf die Bühne zauberte.

Wissend, dass Kehrer aus Israel stammt, erkennt man insofern sogleich anhand der überdimensionalen, hohen Skulptur, die Nora Johanna Gromer für den Beginn von „Wonder“ geschaffen hat, eine Art biblischen  Turm oder Himmelspalast, wie sie in eigener Weise  jahrzehntelang Anselm Kiefer immer wieder aus Beton unter Bezug auf die kabbalistische Mythologie geschaffen hatte. Kehrers und Gromers „Himmelspalast“ steht inmitten einer weiten Ebene, die sich wie ein Plateau in Terrassen nach hinten oben und vorne unten zerteilt. Ein in sanftes, pink-, lila- oder blau gefärbtes Licht getauchter  Ort in fernen Zeiten und doch im Hier und Jetzt, an dem sich die Tänzer*innen einfinden und zu ihrem Tanz finden.

„Wonder“/“Wonder“, Ensemble, Foto: Martin Sigmund

Kehrer verkünstelt sich dabei in Bezug auf seine Bewegungsfindung nicht. Es sind scheinbar einfache Läufe, die das Ensemble vollzieht, so leicht und fein und ohne große emotionale Aufladung ausgeführt, jedoch mit Würde und Aura, dass man keine Veranlassung hat, nach einer „Einheit“, einer „Story“ zu suchen, die sich hier vollziehen könnte. Die tragenden „Teile“  – Menschen in Gruppe und Gemeinschaft an einem Ort in der Nähe einer Orientierung gebenden Skulptur – reichen aus, um Tanz“einheiten“ zu bilden, die Sinn ergeben.  Anders gesagt: Kehrers Choreografie fängt da an, wo nicht mehr erzählt werden muss beziehungsweise wo sich der Blick für die immer komplexeren Strukturen schärfen darf, die sich aus den Läufen dieser Gemeinschaft herausbilden – solange, bis der Turm durch einen Stupser mit dem Finger in sich zusammenfällt und sich seine Teile – Quader, Pyramiden, Würfel – über die Bühne verteilen. Doch anstelle eines Aufruhrs oder der Entstehung neuer Mächte im Kontext eines Vakuums, wollte man die Situation politisch deuten, fangen die Tänzer*innen an, mit den Elementen zu spielen. Die Elemente werden „befragt“, was der zweiten Bedeutung von „Wonder“ entspricht. Sie setzen sich auf sie, bis sie kippen und laufen zu anderen Elementen. Sie schauen einfach, was passiert und welches „Wunder“, welche „Sensation“ sich als nächstes ergibt. Die Bauteile werden zu Sinnbildern für choreografische Ereignisse.

„Wonder“/“Wonder“, Ensemble, Foto: Martin Sigmund
„Wonder“/„SOMEBODY“, Christian Senatore und Sophie Hauenherm; Foto: Martin Sigmund

Kehrer hat sein Stück, wenn man genau hinsieht, in drei Teile geteilt. Der mittlere Teile bezaubert auch deswegen, weil sich Kehrer noch stärker als vor wenigen Jahren, als er mit „Another Land“ erstmals für Tanz Theater Pforzheim choreografiert hatte, seinem Faszinosum der Volkstänze zuwandte.  So hält sich das Ensemble an den Händen und schreitet in großer Ruhe Reihen ab oder es löst sich voneinander, nur um synchron in beugende und erhebende Bewegungen zu kommen. Immer sind alle spürbar miteinander verbunden. Tanz als Erlebnis einer Gemeinschaft wird sichtbar und fühlbar. Dazwischen platzierte Kehrer kleine narrative Anker, die helfen, die Situation wieder zu verändern, zum Beispiel indem eine Tänzerin ausbricht odere indem alle die Steine neu ordnen. Man verlässt dieses Werk, das kein Tanz“stück“ sein will, sondern „Zeitgenössischer Tanz von Gil Kehrer“, wie es im Programmheft heißt, mit dem Gefühl von Friede und Gnade, voller Staunen und Ehrfurcht, voller Hoffnung.

Belohnt wird man danach mit einem außergewöhnlichen Duett, ebenfalls kreiert von Gil Kehrer für Sophie Hauenherm und Christian Senatore. Es erzählt die ewige Geschichte von zweien, die umeinander ringen. Die sich stützen und füreinander da sind, die aber auch im Konflikt miteinander sind. Das Duett erzählt von Abhängigkeit und dem Versuch der Emanzipation voneinander, obwohl sie eigentlich ein gutes Paar wären. Doch in diesem Duett erzählt der Körper noch mehr als in anderen Duetten, die man schon tausendfach auf der Bühne gesehen hat. Denn im Einsatz sind zwei Krücken. Wer sie von beiden braucht und wie sich beide über diese immer wieder aneinander klammern, weiß man lange nicht. Es sind Sophie Hauenherms Beine, die angesichts der Anstrengung immer mehr zittern. Sie nimmt zum Schluss die Krücken in beide Hände, sie schauen sich nochmals an, nah geht sie an Senatore vorbei und dann alleine weiter. Ein Wunder und ein Zeichen, wie stark Frauen sein können.