Lieber Theater als Olympia:
Die preisgekrönte Breakdance-Formation Wanted Posse aus Frankreich mit „Dance’n Speak Easy“ auf Deutschland Tour.
von Vesna Mlakar
Und wo bleibt die Pointe, bitte? Alles in der wunderbar smarten und überhaupt nicht vordergründig-kämpferisch getanzten Show „Dance’n Speak Easy“ dreht sich um Alkohol. Diesem verfallen sind insbesondere fünf famos unterschiedliche Mafiosi. Mit einem monoton die Luft dunkel-sirrend durchschneidenden Sound betreten Victor Balatier, Mame Diarra, Arthur Grandjean, Marcel Ndjeng und Matrin Thai einzeln nacheinander die Bühne. Es wird ein bisschen gerangelt und sich von Ego zu Ego geschubst – bis sich der vorderste in der Schlange zu einer aufgestellten Flasche hinunterbeugt.
Sein Griff zur Flasche, der durch ein sich komödiantisch steigerndes Gruppenspiel herbeigeführt wird, ist der Startschuss zu einer Zeitreise ohne Rückkehr. Alles Markenzeichen dieser französischen, irgendwie stillen, zwar durchaus powerhaften, dabei aber zugleich zurückgenommen-subtilen Produktion. Der Zeitsprung führt die Männer nach einem kurzen Lichtwechsel mitten hinein in eine illegale Speakeasy-Kneipe – eine von außen nicht erkennbare „Klingelbar“, wie sie bis zum Ende der Prohibition in den Vereinigten Staaten zu tausenden in den Straßen von New York, Chicago oder San Francisco zu finden waren. Dort versacken die fünf – gierig auf jeden weiteren Schluck und durch zunehmenden Alkoholpegel auch auf endlos viel Spaß.
Die Truppe quiekt fröhlich auf. Dem Publikum zischt ein eindringliches „Pssst“ von der Rampe entgegen. Und ab geht die Post in einem schummrigen Ambiente unter einem optisch tollen Kronleuchter-Gebilde, das – oh Wunder – aus lauter Flaschen besteht. Man ist angekommen im geheimen Paradies hochprozentiger selbstgebrannter oder geschmuggelter Ware. Keiner will je wieder weg von hier. Schade, denn etwas mehr als die bloße Lust aufs Saufen hätte die Story inhaltlich neben der fetzigen Jessie Perot als einziger Frau – und das Können der Tänzer ohnehin – durchaus vertragen.
Fotos:© Little Shao
Der größte und schlaksigste Typ trägt anfangs stolz einen knielangen Pelz. Sensationell ist, was er in seinen Soloeinlagen mit seinen langen Beinen in einem Mix aus Hip-Hop, jazzigem Swing und virtuosem Stepp an spritzigen Schrittvariationen aufs Parkett legt. Da wirbeln die Füße von der Spitze zur Ferse und wieder zurück – im rasanten Wechsel von rechts auf links. Seine schlangengleichen Arme schlackern in Überlänge dazu. Nur ganz runter in den Spagat gleiten, das mag keiner der Tänzer. Um dem letzten wieder aufzuhelfen, muss Applaus her. Dass die Zuschauer im Saal ohne viel Aufhebens spontan sofort klatschen, spricht für den Charme der originellen Performer dieser Kompanie.
Indem plakative Grobheit ausgeklammert wird, die Tänzer jedes Aufflammen eines Zwists ins Humorvoll-Witzige verdrehen, am liebsten aber letztlich sich selbst auf die Schippe nehmen, sorgen sie vom ersten bis zum letzten Augenblick für tolle Stimmung. Das Gefühl von Leichtigkeit, das sie tanzend verbreiten, ist trotz der teilweisen choreografischen Schlichtheit und Aneinanderreihung verschiedenster Basics in den verbindenden Ensemblepassagen (Choreografie: Njagui Hagbé, Mitbegründer von Wanted Posse) mitreißend. Fast zu verblüffend selbstverständlich tanzt diese Crew ehemaliger Breakdance-Weltmeister über eine Menge sauschwerer Move-Kombinationen hinweg.
Einige der Männer tragen breitkrempige Hüte. Später reiten zwei von ihnen grandios slapstickartig wie zwei Comicfiguren aus einem Stummfilmwestern an ihren körperlich viel breiteren und stämmigeren Kollegen heran, um diesen nach einem emotionalen Ausraster mittels klarer Gestensprache wieder zurück auf den Boden und in ihre kleine verrückte Gemeinschaft zu holen. Als der Finger des einen Cowboys sich erst behutsam in die Nase des Gegenübers bohrt und anschließend in kleinen Wendungen an dessen gestreiftem Hemd den Ärmel abwärts rutscht, lässt sich das Lachen kaum verkneifen. Höchst akrobatisch gestritten wird um einen Stuhl. Nicht missen möchte man das Duett zweier mittlerweile körperlich sichtlich stark Alkoholisierter, die sich – je eine Flasche in der Hand – den zweifellos eindrücklichsten Battle innerhalb des kurzweiligen 70-Minüters liefern. Die Pointe der Show? Sie ergibt sich hier aus den individuellen performativen und technisch immer wieder frappierenden Fertigkeiten der fantastisch aufgelegten Akteure.
Hip-Hop-Dance wird in diesem Jahr olympische Sport-Disziplin. Schon vor 30 Jahren schrieb Wanted Posse Hip-Hop-Geschichte. Die Gründung der Breakdance-Kompanie nahe von Paris geht auf sechs B-Boys Anfang der 1990er Jahre zurück. Schnell wurde die Formation bekannt für ihre szenische Kreativität. Mit „L’arrêt de bus“ kreierten sie 1996 ihr erstes eigenes Theaterstück, gefolgt von „Possession “ und „La Prison“. Konnte man sie zu Beginn ausschließlich in Frankreich auf der Bühne und in den für diese Tanzform so unbedingt typischen Battles erleben, änderte sich das ab 2001 schlagartig nach ihrer Qualifikation für den International Battle of the Year (kurz BOTY).
Bei diesem Wettkampf zeigten sie in Braunschweig vor fast zehntausend Zuschauern eine Show, die im Verbund mit den Performances der koreanischen Crew Visual Shock und der japanischen Formation Team Ohh neue Maßstäbe setzen sollte. Im Final-Battle setzten sich dann die Franzosen gegen die Japaner durch. Doch schon im folgenden Jahr verzichtete Wanted Posse auf ihre Titelverteidigung als inoffizielle Breakdance-Weltmeister und konzentrierte sich stattdessen wieder auf das Theater. Dieser Schwerpunktsetzung bleiben die medaillenverdächtig guten Mitglieder der Gruppe auch weiter treu. Bei Olympia 2024 in Paris treten sie nicht mit an …