Lorenzo Angelini (liegend), Luis Tena Torres (hinten Mitte), Albert Galindo (rechts), Joseph Caldo (vorne) © Martin Kaufhold
Kritiken

Stephan Thoss‘ neuer „Sacre“ in Mannheim

Stephan Thoss‘ neue Interpretation von Strawinskys „Sacre“ in Mannheim greift den Futurismus auf

Von Alexandra Karabelas

Lange hat man in Mannheim auf diesen Abend gewartet. Dass es mehr als zwei Jahre dauern würde, bis im sanierungsgebeutelten Nationaltheater die Interimsspielstätte „Oper im Luisenpark“ – kurz OPAL genannt – für die großen abendfüllenden Produktionen fertiggestellt ist, hätte man nicht erwartet. Umso aufregender war es, Stephan Thoss‘ erste Tanzpremiere dort zu erleben: Ein Abend aus zwei Teilen, die die sinnliche Bedeutung von Kunst und deren Kraft herausstellten, Menschen und die Welt zu interpretieren und hier und da zumindest Einzelne tatsächlich zu verändern.

Thoss, der seit neun Jahren mit seinem umwerfenden Ensemble Choreografie und Tanz von höchster körperlicher, formaler und erzählerischer Qualität liefert, rückte seinem erwartungsvollen Publikum die Umbruchszeit Anfang des 20. Jahrhunderts ins Bewusstsein. Unter dem Brennglas seines Theaters fanden sich zwei der zahlreichen Wirkungsbereiche: der ikonische Künstler Pablo Picasso sowie die futuristische Avantgarde, die im Maschinenmenschen ihr neues Menschenbild sah. Thoss‘ Interpretation von Strawinskys berühmtem, 1913 uraufgeführten „Le Sacre du printemps“ machte den Tanzabend in Mannheim zum Clou. Überdeutlich zeigte die bemerkenswerte und verstörende neue „Sacre“-Choreografie, wie weit sich unsere Gegenwart von den Themen entfernt hat, die etwa Pina Bauschs legendäre Interpretation des „Frühlingsopfers“ verhandelte, und zugleich, welch großes Interpretationspotenzial Strawinskys „Sacre“ bis heute entfalten kann.

Nicola Prato und Paloma Galiana Moscardó © Christian Kleiner

Dora Stepušin © Martin Kaufhold

Wo sich das Tanzen mit nackten Füßen auf brauner Erde und der Geschlechterkampf in den globalen Tanzkanon eingeschrieben haben, zeigt Thoss, dass all das vorbei ist. Das Bühnenbild erinnert an eine Industrielandschaft: Drei Architekturen aus Stahl, darunter ein Kran und ein Turm, definieren ein Niemandsland, in dem es keine Individuen, sondern nur Gruppen gibt. Ein energetisch fein abgestimmtes, genderneutrales Kollektiv agiert wie ein Riesenmobile, in dem niemand aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder geopfert wird, da es keine Einzelnen und keine „Erde“ mehr gibt. Das Ensemble trägt silbern glänzende Langarm-Bodies, Socken und schwarze Streifen auf Beinen und Gesicht und agiert wie ein dynamisches Uhrwerk, eine geölt laufende Megamaschine. Die Choreografie bringt zahlreiche imaginäre und ineinandergreifende Aktionen kinetisch hervor. Die Bewegungen der Tänzer ähneln denen von Puppen oder Robotern, was an spezifische Handgesten von Nijinsky erinnert.

Joseph Caldo und Arianna Di Francesco © Christian Kleiner

Diese choreografische Strategie wandte Thoss auch im ersten Stück des Abends an: „Poem an Minotaurus“. Lorenzo Angelini, Joseph Caldo, Luis Tena Torres und Albert Galindo verkörpern zusammen den Jahrhundertkünstler Picasso, dessen unerschöpfliche Energie, Schaffenslust, avantgardistisches Denken und wechselhaftes Leben – einschließlich seiner Beziehungen zu Frauen – bekannt ist. Thoss‘ Choreografie schafft es, sich nicht vom Trubel von Picassos Leben mitreißen zu lassen, sondern reduziert und konzentriert signifikante Themen und Formen. Sein von Musik von John Adams angetriebenes Stück in markanten Grautönen konzentriert sich auf die hohe Energie, die Picasso kennzeichnete. Mit Hilfe des übermächtigen Bilds des „Minotaurus“ macht Thoss diese in zahlreichen, eher abstrakten Szenen sinnlich und greifbar. Was für ein beeindruckender Mannheimer Tanzabend.