Tanz Theater Pforzheim profiliert sich mit der Uraufführung „Rauschboléro“
von Alexandra Karabelas
Ein weiß schimmerndes Dreieck vorn an der heruntergelassenen Bühnenwand. Weiße, am Boden sich aufbäumend liegende Vorhänge hinten links, als sie verschwindet. Dafür erscheint ein großes, weiß ausgeleuchtetes Rechteck, schräg auf dem Bühnenboden platziert. Sanft werden die Stoffbahnen an dünnen Schnüren nach oben gezogen. Wind bläst, und die meterlangen Schleier wölben sich nach vorn. Ihnen sanft enthüllt: Die schmale Tänzerin Emilia Fridholm, stehend, mit der Hüfte in der Hose die Bewegungen des fließenden Materials in der Luft sanft aufnehmend, den Blick auf das filigrane, sich bewegende Gebirge der Herkunft ihrer Figur gerichtet. Sie könnte vor einem Zimmer oder Haus der Vergangenheit stehen. Vor einem Gebirge der Kälte. Sie könnte ein Traumwesen sein, wie es das Ballett in seinen erzählerischen Gegenwelten eingekleidet in Tütus kennt, nur eben heute in die Welt geworfen. Sie könnte eine Seele sein, aus dem überdimensionalen Schoß der Mutter mit einem Körper geboren. So abstrakt das von Nora Johanna Gromer entworfene Bühnen- und Kostümbild scheint, so vielfältig sind die Bilder, die es assoziieren lässt. Der Stoff ist Protagonist.
Blickt man wieder auf die Figur Fridholms, hat sich das eigene Zeitgefühl schon verändert. Es liegt Zeit zwischen ihr und ihrer „Geburt“, die sich doch erst vor wenigen Sekunden „ereignet hatte“. Viel Zeit. Fridholms Figur ist erwachsen. Dumpfe Schläge und Flächen aus Sound setzen die Landschaft fort, die hier mit wenigen Strichen entworfen worden ist.
Spiel mit dem Zeitempfinden, Modell für Aufmerksamkeit
„Entre“, so der Titel des Stücks, zählt zu jenen Stücken, die dem Zuschauenden Raum geben, loszulassen – von was auch immer – und anzukommen – wo auch immer. Seine Erzählzeit beträgt dreißig Minuten, seine erzählte Zeit ist unendlich. Dazwischen, wie in einem Ozean, tauchen Inseln auf, in denen Zeit als vergangene Zeit, als Erinnerung, greifbar wird. Es bedarf keiner Anstrengung, das Gezeigte interpretieren oder verstehen zu müssen. Es geht bei „Entre“ darum, mit den Augen bei Friedholm und vier weiteren Tänzerinnen und Tänzern zu bleiben, die mittlerweile bei ihr sind. Die eigene Wahrnehmung schärft sich. Man schaut genau, weil man die Zeit bekommt. Man sieht: Es gibt zwischen den Gestalten keine Konflikte, aber Kontraste. Keine Abgrenzung, dafür Aufmerksamkeit und Autonomie. Keine Isolation, und genau deswegen: Individualität und Verbundenheit. Mar Rodríguez Valverde, die Choreografin und Trainingsleiterin bei Tanz Theater Pforzheim, hat den Fluss der gemeinsamen Bewegung der fünf durch Stops, Loops, Momente in Slow Motion oder Explosionen organisiert und vorgesteuert – als Spiel mit dem Zeitempfinden, als Modell für Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Das funktioniert hervorragend. „Entre“ ist ein großartiges Stück. Betörend sind dann die Momente, als man die Klänge von Maurice Ravels „Boléro“ wie von einer alten, zerkratzten Schallplatte hört. „Boléro“ ist „Vergangenheit“, dieser Welt auf der Bühne „davor gewesen“, die im Gegensatz steht zu dem, was Maurice Ravels „Boleéro“-Komposition aus dem Jahr 1928 zum ausdruck bringt: Melodie, Rhythmus, Harmonik, aber auch Kontrolle, Entgrenzung und Extase.
Kommentar zu „Boléro“
Es ist bedauerlich, dass dieses Tanzstück den ersten und nicht den zweiten Teil des neuen Tanzabends am Theater Pforzheim bildet. Es hätte als Kommentar der anderen Uraufführung, der Neuinszenierung des „Boléro“, kreiert von Damian Gmür und Rita Aozane Bilibio, wirken können. Als Gegen-Entwurf zur dort vorgestellten Welt. Diese ist so kalt wie sie einst Thomas Mann in „Dr. Faustus“ in Verarbeitung von Goethes „Faust“ als Diagnose der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg entworfen hat. Zu Beginn durchsickern dichte Nebelschwaden den Raum, nachdem der eiserne Vorhang hochgezogen worden war und man ein Zitat aus Nietzsches „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ aus dem Jahr 1873 über die Hochmut des menschlichen Intellekts gegenüber Gott und Natur gehört hatte. Ein tief über dem Boden hängender Lichtschacht, der langsam hochgezogen wird, kreiert das Bild eines OP-Saals. Als der Lichtschacht immer höher fährt, entsteht das Bild einer Höhle. Oder einer: Hölle. Denn anstatt dass die Menschen von hier aus wie in Platons Höhlengleichnis den Aufstieg zur Welt der Ideen, sprich zu Vernunft und Einsicht erleben, beherrschen in den unzähligen Bewegungsbildern Hektik und doch Verlorensein, Egozentrik, Betäubung und Verblödung die Masse und ihre Individuen. Gmür und Bilibio legen so aktuelle Welterfahrungen auf den Seziertisch der Kunst, vergleichbar wie es derzeit Goyo Montero in Nürnberg mit seiner Neuinszenierung „Der Steppenwolf“ leistet. Es ist eine Welt, in der der Irrsinn die Oberhand gewinnt.
Und so ist das Ensemble in dieser Neuinszenierung, die als unausgesprochenen Untertitel „Das Höllentor“ mit sich trägt, ständig am Rennen. Es läuft vereinzelt oder synchron zu zweit. Es variiert dabei eine Vielzahl an Bewegungen, die aus Sport und Spiel kommen, aber auch an die typischen Hand- und Kopfhaltungen etwa eines Nijinsky erinnern. Es wuchtet sich dazwischen stehend oder kniend unter dem Lichtschacht atemlos zur Gruppe zusammen, den Blick frontal nach vorne gerichtet, in breiter zweiter Position, das Kinn gereckt, die Mimik immer wieder verzogen in Grimassen. Die ganze Zeit links neben ihnen, auf einer Bahn mit dem Rücken zum Publikum, sich nach vorne und wieder nach hinten tastend: ein nackter Mann, der seine Kleidung auf dem Arm trägt. Es ist Adam, der Welt ausgesetzt, nach dem Verlust des Paradieses. Es ist ein Gefangener. Dargestellt als Erschöpfter, als Ausgesetzter, als Nichtbeachteter, als Sterbender.
Betäubung und Irrsinn als Welterfahrung
Nachdem sich das Stück auf diese Weise warmgelaufen hat, getragen von den anschwellenden Klängen des „Boléro“, setzt es ab der Mitte zum Flug in Überschallgeschwindigkeit an. Ursache ist die Szene, in der das Ensemble auf dem Boden kniet, jeder mit aufrechtem Oberkörper, die Augen sind geschlossen, die Hände zu Fäusten geformt, mit nach oben gerichteten Daumen. Besser ließe sich ein Bild für Betäubung kaum darstellen. Etwa gleichzeitig schiebt sich der britische Tänzer Dominik McAinsh als markanter Charakter immer mehr ins Bild. Er ist es, der ab jetzt das Stück nach vorne peitscht, mit erhobenen Stinkefingern, wechselnden Gesichtern und dabei einer tänzerischen und darstellerischen Brillanz, die heraussticht. Auch das ist der „Boléro“: Er legt das große Potenzial des Ensembles frei und fordert es mit Erfolg ein – Chapeau!
Profilierung des Pforzheimer Repertoires
Als Gesamtkunstwerk setzt „Rauschboléro“, wie der Abend heißt, einen wichtigen Weg in Bezug auf Profil und Repertoire-Entwicklung im Tanz am Theater Pforzheim fort. Denn lange und gezielt hat die von Guido Markowitz seit 2015 geleitete Sparte auf die Entwicklung einer zweiten Linie im Repertoire hingearbeitet. Neben dem kurzweiligen, bildstarken tanztheatralen Erzählballett für alle Generationen, das Guido Markowitz selbst vertritt, galt es sowohl choreografisch wie tänzerisch ein anderes Spektrum zu generieren, das, unter anderem inspiriert von der Dynamik, dem Reichtum und der Eigenwilligkeit des zeitgenössischen israelischen Tanzes, mit dem sich Gmür und Bilibio seit Jahren intensiv auseinandersetzen, andere Möglichkeiten eröffnet, den Tanz als Spiegel und Seismograf von Begehren, Welt und Wirklichkeit, Gegen-Welten, inneren Zuständen und Gemeinschaften sprechen zu lassen. So vorbereitet durch wichtige Neukreationen etwa von Gil Kerer oder Sita Ostheimer („Another Land“, Molimo“), durch Damian Gmür selbst in den Stücken „45“, „Wolken, die uns nicht tragen“ und „io – Licht“ oder durch gemeinsame Produktionen von Markowitz und Gmür, in denen sie ihre unterschiedlichen choreografischen Ansätze und energetischen Qualitäten auf ein gemeinsam zu Erzählendes ausrichteten, so etwa bei „Beethoven. Unerhört. Grenzenlos“ oder „Nurejew“, setzte das Ensemble mit „Rauschboléro“ und erstmals Rita Aozane Bilibio zum Sprung in die nächsthöhere Dimension an. Weiter so!