von Volkmar DRAEGER
Toula Limnaios, die zierliche frankophone Griechin mit dem Blick für tiefgründige choreografische Konstellationen, ist aus Berlins Tanzgeschehen nicht mehr fortzudenken. Mit ihrer cie. toula limnaios, 1996 in Brüssel gegründet, siedelte sie ein Jahr später in die deutsche Hauptstadt um, verfügt dort über die eigene Spielstätte HALLE und gehört inzwischen durch weltweite Gastspiele zu den interessantesten Innovatorinnen im zeitgenössischen Tanz. Hat sie sich bisweilen konkreterer Themen angenommen, so etwa nach literarischen Vorlagen, ist doch das Fabulieren mit Bewegung ihr Hauptanliegen. Auch ihr neues Stück tendiert in diese Richtung. Zwar hat sich Toula Limnaios für „jeux“, als Titel konsequent kleingeschrieben wie all ihre Produktionen, mit reichlich philosophischem Hintergrund gegürtet, von Platon über Nietzsche bis zu Henri Bergson – am Ende geht es jedoch im Tanz immer um: Tanz.
Ein käfigartiges, mit Maschendraht transparent umkleidetes, später von Neonröhren illuminiertes Gestell markiert die Mitte auf der ansonsten gänzlich leeren Spielfläche. Eine Tänzerin mit weißem Matrosenkragen umreißt gleich den Ausgangspunkt des Stücks: sie schlüpft in bereitstehende Schuhe und beginnt spielerisch mit der Suche nach sich selbst. Klangliche Sturmböen mit anschließenden grellen Einschlägen (Musik Ralf R. Ollertz) treiben, lenken sie, ihr Zeigefinger verneint Gefundenes. Noch trägt sie, nahezu gesichtslos, eine Augenblende aus Plastik, so wie auch die sechs weiteren Spielkameraden, die nacheinander aufziehen, alle in schwarzweißen, indes individualisierten Kostümen (Toula Limnaios, Kristina Weiß-Busch).
v.l.n.r.: Enno Kleinehanding, Amandine Lamouroux, Karolina Kardasz, Rafael Abreu, Félix Deepen, Alessia Vinotto, Francesca Bedin © Ralf Kokemüller
Nach diesem bewegten Defilee und pulsenden Passagen als Gruppe setzt das Ringen um Eigenständigkeit ein. Ruckhaft wie Roboter vollzieht sich das, führt durch plötzliches Verharren zu stehenden Bildern, als solle die Zeit angehalten, das Erreichte kurz auf seine Sinnhaftigkeit befragt werden. Dann tritt das Gestell in die Aktion ein. Immer wieder wird es zum Zufluchtsort, zur anderen Welt, in die Spielende entweichen, wieder herausgetragen werden, darin wohl auch die Grenzen persönlicher Freiheit erleben. Kinderstimmen lässt die begleitende Toncollage einfließen, setzt harte Klangballungen gegen elegische Teile, flicht sogar eine Händelsche Bravourarie ein.
v.l.n.r.: Alessia Vinotto, Karolina Kardasz, Francesca Bedin © Ralf Kokemüller
Als Zeichen einer sich verändernden Welt verschieben die Spielenden immer wieder das Gestell, agieren in mannigfachen Diagonalformen, füllen intensiv den Raum, haken einander rhythmisch ein, bilden einen Leiberberg mit rankenden Armen und Beinen. Längst haben sie sich da von den Augenschilden befreit, finden sich liegend zu kurzzeitig bestehenden Triogebilden, in denen sich Körper wölben, ehe die Form zerplatzt und sich krachend ins Einzelne auflöst. Auch Aufsitzen als Versuch einer Dominanz über die Tragenden scheitert durch Zerstören der Gemeinsamkeit. Weder separat noch in Gruppe stellt sich Stabilität ein, alles verbleibt im Fluss, die spielerische Suche führt zu keinem gültigen Ergebnis.
Vorne: Francesca Bedin | Hinten v.l.n.r.: Félix Deepen, Enno Kleinehanding, Rafael Abreu, Karolina Kardasz, Amandine Lamouroux © Jens Wazel
Félix Deepen, Karolina Kardasz © Ralf Kokemüller
Wie ein Fremdkörper aus einer anderen Sphäre taucht eine Tänzerin mit Reisetasche und einer Art Einkaufswagen auf, Metapher vielleicht auf die verlockende Konsumwelt. Man trägt sie in das Gestell, bewacht sie, umkreist zu schnaufendem, dann fauchendem Getön das arretierte seltsame Wesen. Ein Tänzer bemüht sich an anderer Stelle, den Körper seiner widerstrebenden Partnerin gewaltsam zu verändern, gibt schließlich auf. Physisch enorm fordernd steigert sich der wirbelnde Taumel in Zeit und Raum, mit kraftvollen Umhebern, Abfedern am anderen Körper, Fliegerspielen wie zu Kinderzeiten, Zusammenprall und Abstoßen. Den Schluss führt die Frau mit Wagen herbei: sie kettet das an ihrem Haar befestigte kleine Gefährt an das große Gestell und zieht alle, die sich nun darinnen befinden, in ihre Welt.
Voller Assoziationen und Rätsel steckt „jeux“, weist Toula Limnaios als veritable Erfinderin eines dichten Bewegungsgeflechts aus und lässt es, entgegen sonstigen Gewohnheiten, in wohltuender Helle stattfinden. Wir alle sind damit Teil einer Recherche nach Festigkeit in einer mehr als ungefestigten Zeit. Als Vermittler fungiert ein exzellent aufgestelltes, komplett sich verausgabendes Septett aus vier Tänzerinnen und drei Tänzern, jede*r ergänzender Part eines künstlerischen Ganzen. Wer dem philosophisch ambitionierten, zusätzlich durch Einstein und Stephen Hawking inspirierten Gedankengrund nicht folgen mag, kann sich einfach erfreuen: an einer anregenden, rundum gelungenen einstündigen choreografischen Raumkomposition.