Hier siegt die Liebe nicht. Aber der Tanz! „Romeo und Julia“ von David Dawson in Dresden
Fotos: © Semperoper Dresden/Jubal Battisti
„Romeo und Julia“, das Ballett nach Shakespeares 1595 uraufgeführter Tragödie, mit der genialen Musik von Sergej Prokofjew, wurde 1938 in Brno uraufgeführt. Leider kein so großer Erfolg. Dieser stellte sich erst ein mit der sowjetischen Erstaufführung, zwei Jahre später, in der Choreografie von Leonid M. Lawrowski, mit dem Kirov-Ballett in Leningrad. Damit erreichte dieser, seit 1785 nachweislich, bis in die Gegenwart sehr beliebte Ballettstoff, seinen bis heute unbestreitbaren Höhepunkt: Es ist der Klassiker unter den Handlungsballetten des 20. Jahrhunderts, und wie man sieht, dieser Erfolg setzt sich fort.
Wenn sich heute ein Choreograf den Herausforderungen einer Neudeutung, natürlich unter Wahrung der Vorgaben des Librettos von Lawrowski und Prokofjew stellt, dann geht er immer ein Wagnis ein. Dass aber zu diesem Wagnis auch der Mut gehört, ganz eigene, aus historischem Rückblick, sensibler Wahrnehmung der Gegenwart, und dem unverstellten Blick auf die Zukunft, Akzente zu setzen ist dann in keiner Weise als Widerspruch zu sehen. Jedenfalls nicht in David Dawsons Dresdner choreografischer Uraufführung.
In Dresden aber, das wurde am Abend der Premiere sehr deutlich, gibt es dazu noch eine besondere Herausforderung. Es ist das Spiel der Sächsischen Staatskapelle unter der Leitung von Benjamin Pope.
Mit welcher Resonanz der Vielschichtigkeit dieser Partitur, seien es die starken und dramatischen Klangbilder, dann wieder die Momente der Zärtlichkeit – immer aber, so in der berühmten Balkonszene – unterlegt von mitunter kaum wahrnehmbaren, aber dann doch hörbaren Klängen sich abzeichnender Tragik. Prokofjew ist ja zudem ein Meister der Rhythmik, des Tänzerischen, und dann auch des klingenden Humors.
Meisterhaft wird in Dresden unter der Leitung dieses balletterfahrenen Dirigenten musiziert und wenn sich nach dem Vorspiel der Vorhang öffnet, dann hat der Klang schon so viele Bilder erzeugt, Assoziationen geweckt, dass man sich einstellen muß darauf, wie nun bewegte und immer wieder zutiefst bewegende Sprache des Tanzes sich vereint mit der des Klanges und des Raumes.
Den Raum und die Kostüme hat Jérôme Kaplan entworfen. Auch er bezieht sich auf Traditionen, und man liegt sicher nicht falsch wenn man in der Aufteilung und dem Wandel der so unterschiedlich grundierten Szenen auch schon mal an John Crankos geniale Vergegenwärtigung dieser Tragödie denkt, hier vor allem, an die in historisierendem Dialog der Optik gestalteten Bilder der Szenen von Jürgen Rose, vor 60 Jahren mit dem Stuttgarter Ballett.
Kaplan geht natürlich im ästhetischen Dialog mit Dawson weiter. Bei ihm bildet eine zeitlose Architektur aus schroffem, bedrohlich grauem Beton so etwas wie die unüberwindbare Begrenzung der Bühne. Dass es in diesem Beton dennoch so etwas wie Lichtblicke geben kann verdankt sich dem Tanz, etwa in der so grandiosen wie berührenden Balkonszene. Hier aber, auch das spricht für diese Inszenierung, erfahren die bedrohlich, dunklen Untertöne der eigentlich sich aufschwingenden Musik des Tanzes, so etwas wie eine hier noch nicht unbedingt wahrzunehmende Warnung.
Und dann fügt es sich, dass eben alle an diesem Beton scheitern werden, Romeo und seine Freunde im jugendlichen Irrtum – wenn nötig mit Humor – gegen die Härte des Betions anzugehen, stärker noch mit den Emotionen liebevoller Zuneigung, und es sind die anderen, tragischerweise ebenso junge Menschen, die Kaplan in schwarz kleidet, die den tödlichen Staub des Betons dieser Gegenwart längst in sich tragen.
Und in einer solchen Szenerie, bei so hart betonierter Ausweglosigkeit für die Liebenden der verfeindeten Clans, Romeo für die Montagues und Julia für die Capulets, folgt Dawson auch Cranko, der schon im Blick auf die Zeit der 60er Jahre es nicht mehr für möglich hielt, wie im Original – das Ballett mit der Versöhnung der feindlichen Familien enden zu lassen.
Die Visionen sind somit, und auch jetzt in Dresden, bei David Dawson, ganz und gar nicht, außer Kraft gesetzt.
Sie schwingen ja immer wieder in ihren tänzerisch so liebevollen Tänzen als Paar, zwar in der Tradition des neoklassischen Pas den deux, aber doch immer wieder mit Momenten der Assoziationen gegenwärtiger Motive des Tanzes verwoben: Ayaha Tsunaki als Julia und Julian Amir Lacey als Romeo. Er jünglingshaft, ganz in weiß, sie in changierenden Farbtönen, bei denen das Weiß übergeht in leichte, aber wahrnehmbare, dunklere Einfärbungen. Wunderbar die Facetten der Leichtigkeit bei Ayaha Tsunaki, weit entfernt von möglichem Leichtsinn und im Verlauf dieses am Ende tödlichen Dramas, auf die letzte Chance des vorgetäuschten Todes, ist im Grunde von ganz anderen Empfindungen ihrer Ausstrahlung geprägt als von möglichen Momenten einer Hoffnung. Es ist ja in der Tradition der Tragödie eben so, dass es Missverständnisse sind, Verspätungen oder nicht erhaltene Briefe.
Erstaunlich, wie es diesem Romeo von Julian Amir Lacey gelingt, auch mit Unsicherheiten seiner Person umzugehen, wie er zögernde Momente wagt, ja mitunter auch knappe Eindrücke von gedankenverlorener Einsamkeit zu gestalten weiß. Es ist somit nicht der Tanz mit seinen enormen Anforderungen allein, es ist die persönliche Individualität dieses Jünglings, der letztlich viel zu jung scheint um diesen Anforderungen zwischen den Fronten gerecht werden zu können. Perfektion allein hätte da nicht gereicht.
Und da sind die Freunde Romeos: Mercutio, getanzt von Jón Vallejo und Alejandro Martínez als Benvolio.
Das reine Besetzungsglück. So wie bereits John Cranko deren Bedeutung, besonders die des Mercutio, so grandios zu deuten verstand, so gelingt es nun David Dawson hier eine dramatische Beziehungstragödie, von der allerdings Romeo, dessen Zuneigung nun ja einzig Julia gilt, so gut wie nichts mitbekommt. Wenn sich hier Benvolio dem Mercutio in zunächst heimlicher, dann offensichtlicher, in erotischer Zuneigung nähert dann lässt sich Mercutio darauf ein. Aber, das kann ein so charakter- und nuancenreicher Tänzer wie Jón Vallejo erkennbar machen, seine Zuneigung gilt Romeo und wenn er an dem tödlichen Stoß von Julias Cousin Tybalt, getanzt von Marcelo Gomes, sterben wird, dann gilt sein tragikomischer Totentanz, immer wieder mit jenem Aufbäumen in der Kraft des Humors, eben seinem Freund Romeo. Und hier ist diese Interpretation ganz nach bei Shakespeare. Er ist der Meister der Tragödie voll Humor und Witz, vom harmlosen Scherz bis zur zynischen und bitteren Ironie, bei ihm tritt aus dem Komödienton um so gewaltiger der Ernst hervor. So der Theaterwissenschaftler Georg Hensel. Romeo tötet Tybalt: Marcelo Gomez im durchgehenden Schwarz der Capulets, auch in der tänzerischen Interpretation in allen Facetten der betonierten Machtpräsentation dieser Ausstattung schon zutiefst verhaftet.
Einen so glühenden wie brennenden, roten, wiederständige Hoffnungsschein ihres Kleides setzt die hoheitsvolle Erscheinung der Tänzerin Sangeun Lee als Lady Capulet. Auch wenn sie alle Schranken durchbricht und in ihrer Trauer um den getöteten Tybalt mehr als deutlich werden lässt dass es hier um weit mehr geht als um den Abschied von einem Verwandten. Als sei es Rache, sie wird das Unglück Julias nicht erkennen wollen und daran fest halten mit dem machtlosen Gatten, wie ihn Christian Bauch fast in dezentem Unglück zu charakterisieren weiß: Julia heiratet Graf Paris. Aus! Basta! Warum sollen Töchter glücklicher sein als Mütter. Gareth Haw als Paris bleibt auf verlorenem Posten, tragische Komik des Gehorsams.
Ach wenn die sympathischen Helfer, Jenny Laudadio als Julias Amme, Casey Ouzounis als Bruder Laurence und Rebecca Haw als Freundin es möglich machen, die Liebenden heimlich zu trauen, nach der Hochzeitsnacht muss Romeo, der Mörder, fliehen. Und der sicher ausgeklügelte Versuch mit Julias Scheintot eine Situation zu ermöglichen um dann mit Romeo zu fliehen, kann nicht gelingen. Der Brief erreicht ihn nicht, die Schlafende hält er für tot, er vergiftet sich, und Julias Erwachen, welch ein Widerspruch, ist tödlich, sie ersticht sich mit seinem Dolch.
So scheitert das absolute Gefühl, um noch einmal Georg Hensel zu folgen: „in einer Welt die durch das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Bindungen, von Familienhass, von bösen Folgen guten Willens, von Charakter, Verhängnis und auch Zufall derart verrätselt ist, dass niemand sie durchschauen kann.“
Und doch, das macht nun auch die Dresdner Aufführung aus; eine Versöhnung der verfeindeten Familien, wie im ursprünglichen Libretto vorgesehen gibt es nicht. Und doch, der Tanz mit seinen so vielen Facetten der wortlosen Sprache, im Zusammenklang mit der genialen Musik, macht es möglich bei aller Tragik, Momente von schönster Poesie zu erleben. Ist da dann nicht doch ein Schimmer der Hoffnung zu erleben? Eine Gebrauchsanweisung gibt es nicht. Zum Glück!
Boris Gruhl