Gestandenen Werken der Klassik ein neues tänzerisches Gesicht zu geben, ist nicht unproblematisch. Mauro de Candia hat das am Theater Osnabrück mit „Giselle“ gewagt, einem Signaturwerk der Romantik, bei dem im Original einfach alles stimmt: Story, Choreografie, Musik. Freilich lechzt ein anderes Jahrhundert nach einer Interpretation aus seinem Geist. Mats Ek ist das 1982, auch schon fast 40 Jahre her, überzeugend gelungen. Nach etwa Halle 2001 unter Ralf Rossa nun ein nächster Anlauf: „Giselle“ in eigenständiger, streckenweise schlüssiger Konzeption, mit reichlich umgeschaufelter Reihenfolge der Musikteile. Namen werden den handelnden Personen hier nicht zugeordnet, deshalb seien in diesem Text die traditionellen übernommen. Im Birkenwäldchen lagern verliebt zur Ouvertüre Albrecht und seine Freundin. Das wäre bereits mal geklärt. Im Spiel von fünf Dorfburschen bleibt Hilarion, als einziger mit einer gelben Hose, Außenseiter. Und auch Giselle steht unter den Mädchen in besonderer Rolle. Eigentlich könnte es zwischen den beiden etwas werden, würde nicht Albrecht auftauchen. Mit ihm funkt es bei Giselle, bis Hilarion das Paar trennt und Giselle genervt geht. Und auch Albrechts Freundin umwirbt ihren Ungetreuen.
Tänzerisch vollzieht sich all das gut erfunden in der düsteren Atmosphäre einer Lichtung, wie sie Choreograf Mauro de Candia mitsamt den Kostümen, legerer Alltagskleidung, gleich selbst entworfen hat, und in einer bodenverhafteten, fließend zeitgenössischen Bewegungssprache. Und da setzt das Unbehagen schon ein. Jedem Unterdrückungsbemühen zum Trotz steht dem halbwegs versierten Zuschauer allmächtig vor Augen, was er vom Original kennt, wie vielen Redaktionen es auch über die knapp 180 Jahre seiner Existenz ausgesetzt gewesen sein mag. Zu einer Liebesheirat von Musik und Tanz kommt es auch im Weiteren nicht. Die Musik behauptet ihr Eigenleben, läuft parallel, der Tanz atmet in seiner, einer anderen Welt und geht bisweilen musiklos vonstatten.
Hilarion leidet, die Dorfjugend tanzt zu Hörnerklang, Giselle und die Freundin ihres Verehrers treffen aufeinander und werden von Hilarion besänftigt – eine interessante Neusicht. Das Klangkolorit des Bauern-Pas-de-deux vereint die Paare im fröhlichen Spiel um Birkenklötze, Giselle verweigert sich Hilarion erneut, Rivalitäten köcheln hoch, bis Giselle, nicht eben eine Dorfschüchternheit, beherzt Albrecht zum Tanz greift. Im Galoppgetümmel dann die Enttarnung: Albrecht und Freundin umarmt. Kurzkampf der Rivalen, Giselle rasend und rutschend nach schmerzvollem Drehtaumel, Hilarion hilflos, Albrecht schuldbeladen am Rand auf einem Birkenstamm. Entlang einem Lichtstrahl flieht Giselle in den Wald, ein stimmungsvolles Bild.
Dort hockt sie sinnfällig eingangs des zweiten Akts, als die Freundin Albrechts zum Pas-de-deux-Adagio hinzutritt: zwei betrogene Frauen, eine reizvolle Idee, die indes nicht solidarisch werden. Überhaupt muss dieser Akt musikalisch die gravierendsten Umstellungen, Neuzuordnungen und Generalpausen erdulden. Zeitlupe dominiert den Tanz, der stücklang auf Pantomime verzichtet, in Akt 2 viel mit stehenden Bildern operiert. Bedeutungsschwere Gänge der trauernden Dorfjugend bedienen die filigrane Musik, die, ihrer Dramaturgie beraubt, zur bloßen Tonkulisse wird, weil sie für einen anderen choreografischen Zusammenhang, den Auftritt der Wilis, komponiert wurde, obwohl auch hier die Mädchen ihre Burschen anklagend zurückstoßen. Der Finalteil gehört ganz den Protagonisten. Getrennt treten Hilarion und Albrecht auf, der erste geht zerknirscht zu Boden, der andere hat noch ein letztes Duett mit der schon unirdischen Giselle. In der Erstarrung aller Dorfbewohner legt Giselle ihr Kleid ab, schreitet ins Gleißende des Wäldchens: bereit nun wohl zum Sterben.
Marine Sanchez Egasse als Titelgestalt und Hampus Larsson als Albrecht, Ana Torre als seine Freundin und Neven Del Canto als Hilarion holen allen Ausdruck aus ihren Körpern und vermeiden so jedes Pathos, Daniel Inbal und sein Osnabrücker Symphonieorchester sind ganz bei Adolphe Adams kompositorischer Vorgabe. Mit einer anderen Musikwahl hätte sich Mauro de Candia einen besseren Dienst erwiesen. So aber bleibt seine „Giselle“ eine „schwierige Patientin“.
Volkmar Draeger