Paradigma "Bedroom Folk", Foto Wilfried Hoesl
Kritiken

Online Stream: „Paradigma“ – Premiere beim Bayerischen Staatsballett

Das Warten hat sich gelohnt:  Drei zeitgenössische Choreographien mit unterschiedlichen Stilen, jeweils aber spitzenmäßig getanzt

Dieser Abend, als achte Fortsetzung der Münchner Montagsreihe beim Staatsballett, mit jeweils zeitgenössischen Kreationen, beginnt mit der Wiederaufnahme „Broken Fall“ von Russell Maliphant zur Musik von Richard Adams im Licht von Michael Hulls in der Einstudierung von Norbert Graf. Maliphants Kreation – vor 18 Jahren mit Sylvie Guillem uraufgeführt – besticht jetzt grandios durch die Kraft gegenwärtiger Präsenz der Tänzerin Jeanette Kakareka und ihrer exzellenten Partner Jinhao Zhang und Jonah Cook. Wie sich hier aus Raum, Klang, Licht und Bewegung eine nahezu kosmisch anmutende Kommunikation in den so intensiven körperlichen Dialogen des Vertrauens, auch im Loslassen und in der somit zu gewinnenden Kraft, sich den Risiken existenzieller Erkundungen des Unbekannten auszusetzen, entwickelt, macht geradezu paradigmatisch erfahrbar, worin die besondere Kraft des Tanzes bestehen kann. In „Broken Fall“ geht es um körperliche Dialoge des Vertrauens, Nähe und Ferne. In Variationen der Zuneigung in den wechselnden Konstellationen geht es darum, sich gehalten zu wissen und daraus die Kraft zum Loslassen zu gewinnen. Sich zu erheben, bzw. im Tanz sich erheben zu lassen, sich gehalten zu wissen, selbst für Momente im freien Fall sich von solcher Erfahrung des Vertrauens gehalten zu wissen, solche Vorgännge wandelt diese Choreografie in erstaunliche Bilder kraftvoller Zartheit des Miteinanders dieses Trios, aus dem sich am Ende die Tänzerin im finalen Solo durch die so gewonnene, innere Kraft ihrer Erfahrungen entfernen kann.

„Bedroom Folk“ Ch. Sharon Eyal und Gai Behar, Foto Wilfried Hoesl

Es folgt „Bedroom Folk“ von Sharon Eyal und Gai Behar zu minimalistischen Klangvariationen mit herrlichen Anleihen aus der Electro-Club-Dance-Ästhetik im optischen Dialog zu den immer wieder wahrzunehmenden Bewegungszitaten der Street-Art-Dance-Scene ohne in vordergründige, modische breakende Hip-Hoperei zu verfallen. in dieser 2015 beim Nederlands Dans Theater uraufgeführten Choreografie zeigt sich geradezu paradigmatisch, welche Chancen zu entdecken sind, wenn exzellent klassisch grundierte Tänzerinnen und Tänzer sich in die Bereiche minimalistischer Dynamik tänzerischer Exaktheit begeben können. So gewinnen hier in der aktuellen Münchner Besetzung die vier Paare mit Carollina Bastos, Elisa Mestres, Marta Navarrete Villalba, Verga Segova, Severin Brunhuber, Matteo Dilaghi, Nicholas Losada und Robin Strona eben genau jene Dynamik der Kraft im optischen Zusammenklang der jeweiligen Kraft individueller, tänzerischer Persönlichkeit. Erstaunlich, wie sich immer wieder Einzelne aus der Kraft der Gruppe lösen um – vor allem in jenen für die Choreografin so typischen, minimalistischen Exaktheitsvarianten – so etwas wie immer neue Chancen des tänzerischen Selbstvertrauens bei kreativem Ausreizen tänzerischer Haltungen zu gewinnen. Die Tänzerinnen und Tänzer bestechen durch ihre Eleganz der Exaktheit ohne auch nur im Entferntesten tanztechnisches Können zu demonstrieren. So können einzelne Bildsequenzen auch verstörend sein, zudem fehlt es auch nicht an freundlicher Ironie und immer wieder an gewinnendem Humor.

„With a Chance of Rain“ Ch. Liam Scarlett, Foto Wilfried Hoesl

Für ein dramaturgisches Paradigma spricht nicht zuletzt die immer wieder aufblitzende Möglichkeit assoziativer Verbindungen zum ersten Teil des Abends. Dass zudem die Abfolge der drei Stücke nicht nur unter dem Gesichtspunkt eines möglichen Spannungsaufbaus gewählt ist spricht ebenfalls für die Stärke dramaturgischer Grundierung dieses Abends.

Und wie sich am Ende aber doch so erfreulich wie erstaunlich ergibt, dass die Ausdrucksmöglichkeiten des Balletts mit seinen unverzichtbaren Techniken längst nicht ausgeschöpft sind, zeigt als krönendes Finale Liam Scarletts 2014 in New York beim American Ballet Theatre uraufgeführte Choreografie „With a Chance of Rain“ zu sechs Präludien sowie der Elegie in es-Moll von Sergei Rachmaninov.

Liam Scarlett schuf Raum und Kostüme, Brad Fields das Licht, Dmitri Mayboroda ist der Pianist, Kirsten McGarrity und Liam Scarlett verantworten die Münchner Einstudierung. Die ist gelungen, ohne Wenn und Aber. Ganz aus dem Geist der Musik lässt Scarlett für vier Paare poetische Varianten der Zweisamkeit entstehen, immer wieder auf den Grundlagen klassischer Techniken der Variationen, die sich ganz organisch in Dialoge mit gegenwärtigen Ausdrucksweisen des Tanzes führen lassen. Immer wieder, bei einem Höchstmaß an körperlicher Musikalität, gibt diese wunderbare Leichtigkeit des Tanzes auf der Spitze, der Hebungen, der Variationen von Drehungen und Sprüngen, ohne auch nur im geringsten Ansatz etwas von unangemessener Künstlichkeit erkennen zu lassen. Es gibt berührende Varianten der Einsamkeit zu zweit, des sich Findens und Verlierens in zitierenden Varianten der Kunst des Pas de deux. Es kommt zu überraschenden Erfahrungen, etwa zweier Tänzer, die sich aus dem Dialog mit ihren Partnerinnen lösen um überraschende Momente glücklicher Zuneigung untereinander zu erfahren, aus denen sie mit neu gewonnener Kraft vertrauensvoller Selbsterkenntnis gestärkt hervorgehen.

Die so hoffnungsvolle wie erwartungsvolle Poesie des Titels dieser Kreation, „With a Chance of Rain“,  gewinnt ihre Kraft nicht zuletzt durch den Zusammenklang der Melancholie dieser Musik mit jener der wunderbaren Tänzerinnen und Tänzer: Elvina Ibraimova, Ksenia Ryzhkova, Lauretta Summerscales und Madison Young, sowie Jonah Cook, Ariel Merkuri, Emilio Pavan und Jinhao Zhang.

Und so erschließt sich auch mit dieser Choreografie die Titel des Abends: „Paradigma“.

Unbedingt zu erwähnen aber die grundsätzlich insgesamt doch, trotz einiger Störungen der Bildtechnik im ersten Teil, gelungene Umsetzung Bild-, Licht- und klangtechnischer Kunst der online-Wiedergabe. Hier kündigen sich paradigmatische Maßstäbe an. Und das gilt auch für die so freundliche wie gewinnende und jeweils einladende Moderation dieser Bildschirmpremiere durch den Dramaturgen Serge Honegger.

Boris Gruhl