von Evelyn KLÖTI
Hans Christian Andersen ist seit 150 Jahren tot, doch seine dunklen Märchen und ihr Schöpfer bleiben unvergessen. Kim Brandstrup nähert sich ihnen mit dem Ballett Zürich in einer abendfüllenden Produktion, die Märchenmotive mit der Biografie des Autors zu verweben sucht.
Der Choreograf ist Däne und hat Andersen mit der Muttermilch aufgesogen. Zum Tanz ist Brandstrup spät gekommen, in den 80er Jahren in London, wo er sich einen Namen mit seiner eigenen zeitgenössischen Tanzcompany „Arc“ gemacht und auch für das Royal Ballet gearbeitet hat. Seine zweite Passion gilt dem Kino, und dementsprechend gross und visuell düster, aber ansprechend kommt „Of Light, Wind and Waters“ daher. Die Naturgewalten (Video: Tieni Burkhalter) flimmern dezent über die Bühnenelemente – mal Schiff, mal Palast, mal Studierzimmer – und knarzen, blubbern und heulen weniger dezent durch das Sounddesign von Ian Dearden, der Kompositionen von Anna Clyne und Hans Abrahamsen u. v. m. zusammengeschustert hat.
Stückchenweise werden „Die kleine Meerjungfrau“, „Die Schneekönigin“ und – spannend! – „Der Schatten“ erzählt. Die Choreografie beschränkt sich auf die Hauptfiguren, das Ensemble tanzt Wasser, Wellen, Eis und ist auch damit beschäftigt, das Bühnenbild herumzuschieben. Richard Hudson, für Bühnenbild und Kostüme zuständig, arbeitet hauptsächlich für die Oper. So ist das Setdesign zwar durchdacht und sind die Kostüme, insbesondere jene der Nixen, prächtig anzusehen, doch hindern die Schleppen am Tanze.
Max Richter und Wei Chen © Gregory Batardon
Max Richter – die unvergessliche „Giselle“ dieser Saison – rettet den Prinzen (Wei Chen) aus den Fluten, verliebt sich in ihn und opfert für ihn ihren Fischschwanz – die plötzliche Beinfreiheit tut der Choreografie gut! – und ihre Stimme. Von ihm verraten, soll sie ihn erstechen. Doch aus dem Dolch in ihrer Hand wird nichts gemacht, sie gibt die Waffe einfach zurück und geht weg.
Elena Vostrotina und Mlindi Kulashe © Gregory Batardon
Etwas lebendiger sind die beiden Kinder Gerda (Ruka Nakagawa) und Kay (Mlindi Kulashe) gestaltet. Kay wird von der eiskalten Schneekönigin (Elena Vostrotina) verzaubert und gefangen gehalten; Gerda sucht, findet und erlöst ihn. Was sie auf ihrer Reise alles erlebt, liest man lieber, davon zu sehen ist nichts. Spannender und choreografisch mit dem Doppelgänger-Motiv auch besser gemacht, ist „Der Schatten“, da dieses Märchen eine poetologische Reflexion enthält und von zwei fantastischen Tänzern erzählt wird: Esteban Berlanga verkörpert den Dichter und Karen Azatyan dessen Schatten, der sich verselbständigt, Karriere macht und den Dichter letztendlich auch tötet. In diesen Sequenzen arbeitet Brandstrup mit Spiegelungen, dynamischen Bewegungen und schreckt weder vor Purzelbäumen noch Hechtrollen zurück.
Karen Azatyan und Esteban Berlanga © Gregory Batardon
Nancy Osbaldeston und Esteban Berlanga © Gregory Batardon
Nancy Osbaldeston ist die Personifikation der Poesie, die den Dichter und dessen Schatten beflügelt, was sich in harmonischen Pas de Deux’ zeigt. Manchmal schlummert sie auch in einer Ecke, während dieser mit seinem Schatten ringt oder der Mensch Hans Christian Andersen, der geht gerne vergessen, mit seiner Mutter. Am Schluss wird Lucas Valente an einem Seil in den Bühnen- und Märchenhimmel entrückt, während Shelby Williams als Mutter in der Gosse bleibt. Wie in Andersens Leben. Das reisst den Andersen-Abend aber nicht mehr heraus. Ungewohnt verhalten ist auch der Applaus des Premierenpublikums.
Niemand erwartet Farbenpracht und Happyend, aber so saftlos sollte ein „Ballett für die ganze Familie“ auch wieder nicht sein. Schade um die tollen Tänzer:innen, die nicht zum Zug kommen. Da geht man lieber ins Schauspielhaus Zürich, wo „Die kleine Meerjungfrau“ als Drag-Show gegeben wird.