Ajna, Ch.: Aurora De Mori Tänzerin Martina Marin © Stuttgarter Ballett
Kritiken

Noverre: Junge Choreografen 2021 – Ein Stream des Stuttgarter Balletts

Ein Name als Programm. „Noverre“ heißt der Abend, der weniger an den „Reformator des Balletts“ erinnert als an die Gesellschaft, die sozusagen in seinem Auftrag mehr als sechzig Jahren lang dem schöpferischen Nachwuchs eine einzigartige Plattform bot. Die Gesellschaft hat sich inzwischen aufgelöst, der wir immerhin die „Entdeckung“ eines John Neumeier, Jirí Kylián, Uwe Scholz, Marco Goecke und unzähliger anderer zu danken haben. Fritz Höver, ihr Gründer, ist schon lange tot. Rainer Woihsyk, sein Nachfolger, verstarb im letzten Jahr. Um nicht auch noch deren Zukunftprojekt sterben zu lassen, wurde es vor einiger Zeit in die Verantwortlichkeit des Stuttgarter Balletts überführt.

„Junge Choreografen“ gibt es schließlich immer wieder, und 2021 sind es gleich sieben Tänzerinnen und Tänzer des Stuttgarter Balletts, die erneut die Probe aufs Exempel wagen – darunter gleich zu Anfang und am ausführlichsten Jessica Fyfe aus Australien, die sich als einzige des Abend durch und durch klassisch präsentiert. „Peace Apart“ nennt sie ihren Pas de deux zu verschiedenen Chopin-Stücken, den sie zusammen mit Moacir de Oliveira auch selber interpretiert: ein wunderschön gestaltetes, dabei durchaus wehmütiges Duo über Distanz und Nähe, das einen in manchen Passagen an „La Fille mal gardée“ oder „La Bayadère“ denken lässt, aber aller virtuosen Ausformung zum Trotz nie ins Unpersönliche gerät. Man ahnt, was Jessica Fyfe im Innersten bewegt, und fühlt sich dennoch als Zuschauer frei genug in seinen Deutungsmöglichkeiten.

Das ist nicht immer so. Aurora De Mori beispielsweise, wie alle anderen in einem Kurzfilm vorgestellt, benügt sich nicht mit ein paar erklärenden Worten, sondern lässt zwischendurch einen eigenen Text einsprechen, der ihrem Stück die Richtung weist. Wirklich aussagekräftig werden in „Ajna“ allerdings die symmetrischen Strukturen nicht – umso weniger, als sie kaum zu der schwülstig instrumentierten Musik von Ennio Morricone passen wollen. Bedauerlich, weil das Stück so vielversprechend beginnt.

 “Kineograph” Ch. Vittoria Girelli mit Hyo-Jung Kang, Fabio Adorisio, Henrik Erikson, Rocio Aleman, Timoor Afshar, © Stuttgarter Ballett

Vittoria Girelli hingegen hält, was sie verspricht. Noch merkt man in „Kineograph“ die Erfahrungen an, die sie in Arbeiten von Jirí Kylián und Marco Goecke gesammelt hat. Aber ihre Körperaktionen zwischen An- und Abspannung, Witz und Wahnsinn lassen bereits viel Eigenes erkennen, Energetisches, das es noch weiter zu erschließen gilt. Und die „Umweltzerstörung“, die sie eingangs andeutet, lassen sich ausmachen in der Brechung einer Linienführung oder irritierenden Wechselspiel einer Fünfergruppe.

“Deltangi” Ch. Timoor Afshar mit Daiana Ruiz, Alessandro Giaquinto, Martí Fernández Paixà
© Stuttgarter Ballett
“The Storm before the calm” Ch. Adrian Oldenburger mit Veronika Verterich, Clemens Fröhlich
© Stuttgarter Ballett

Noch skizzenhaft bleiben die Bewegungsversuche von Adrian Oldenburger und David Moore. Der eine zeigt in „The storm before the calm“ noch eine Spur zu plakativ die Schattenseiten eines Lebens, der andere lässt die Einschränkung von Raum und Zeit eher szenisch sichtbar werden. Schrittreicher, stimmiger, stärker geben sich dagegen Shaked Heller und Timoor Afshar. Heller, beim letzten Noverre-Abend fast schon etwas wie ein Star gefeiert, lässt sich auch diesmal in „Agoloy“ Originelles einfallen: nämlich eine Harlequinade à la Picasso, pendelnd zwischen dessen rosa und blauer Periode – zentriert um einen Louis Stiens, der uns in einem furiosen Solo etwas aus dem Leben einer Marionette erzählt. Und Afshar? In „Deltangi“ sinniert er über das Gehen, wie er sagt, und lässt dabei seine choreografischen Gedanken schweifen – mal meditativ wie in den Alleingängen von Alessandro Giaquinto, der zwischendurch schon mal einen Derwisch-Tanz zitiert, mal ungemein poetisch in kompositorischen Kreuzwegen von Daiana Ruiz und Martí Fernández Paixà.

“Agoloy” Ch. Shaked Heller mit Mackenzie Brown, Sinéad Brodd, Paula Rezende, Elisa Badenes © Stuttgarter Ballett

Ein Stück, das man unbedingt wiedersehen möchte. Am 22. April lässt es sich noch einmal streamen. Und vielleicht gibt es im Juni, so Gott will, bei der Ballettfestwoche eine Gelegenheit, es dort zu erleben, wo es hingehört: auf der Bühne.

Hartmut Regitz