Marco Goecke beschenkt das Ballett Zürich mit seinem „Nijinsky“: Konzentration und Applaus hoch drei für die Schweizerische Erstaufführung im Opernhaus Zürich.
Eigentlich wäre keine weitere Rezension nötig, denn Goeckes Werk – ein Meisterwerk ohne jeden Zweifel – ist seit seiner Uraufführung mit Gauthier Dance 2016 im Theaterhaus Stuttgart hinlänglich bekannt; es ist oft gezeigt und viel besprochen, ja besungen worden.
Dennoch wird hier eine weitere Hymne auf zwei Tanz-Genies angestimmt, um auch den genius loci ein bisschen abzufeiern. Denn vor 100 Jahren, am 4. März 1919, fuhr Nijinsky – mit seiner Frau Romola und den Schwiegereltern – von St. Moritz, wo er am 19. Januar zum letzten Mal öffentlich getanzt resp. sich den Erwartungen des noblen Publikums verweigert hatte, nach Zürich. Nijinsky mochte diese Stadt nicht, wie er in seinen Tagebüchern schreibt: Die sei trocken, voller Fabriken und Geschäftsleute. Sein Weg führte ihn jedoch nicht wie geplant an die Börse, wo er zu Geld zu kommen hoffte, sondern in die psychiatrische Universitätsklinik, Burghölzli im Volksmund, zu Prof. Eugen Bleuler, der bei ihm Schizophrenie diagnostizierte.
Kurz und auf den Punkt gebracht – wie alles bei Marco Goecke – erfolgt die Anamnese auf der Bühne: Ein Arzt (Dominik Slavkovský) begegnet seinem prominenten Patienten zunächst auf Augenhöhe, sodass man sich fragt, wer hier überhaupt verrückt ist. Doch schnell wird klar, wer sticht und wer gestochen wird. Jan Casier tanzt Nijinsky, und dieser geht noch mehr unter die Haut als sein Woyzeck in Christian Spucks Ballett. Das grosse Leid(en) eines psychisch kranken Menschen: Goecke macht es – anders, aber nicht weniger eindringlich als John Neumeier – sichtbar, fühlbar.
Im Unterschied zu Stuttgart wird in Zürich zu Live-Musik getanzt. Pavel Baleff dirigiert die ersten beiden Klavierkonzerte von Frédéric Chopin, was für ungeheuer spannende Momente zwischen Bühne und Orchestergraben sorgt, zumal sich die Bewegungssprache und die Musik – Stakkato und Schmelz – nicht selten zu widersprechen scheinen. Zwischen den Klavierkonzerten gibt Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune dem Pianisten Adrian Oettiker eine kurze Verschnaufpause. Wie schon Nijinskys Faun-Choreografie seit ihrer Uraufführung in Paris 1912 die Gemüter erhitzen und unsere Wahrnehmung von Choreografie an sich irritieren kann, raubt uns auch Goeckes Faun den Atem. Wenn Nijinsky – zwar im Traum – seinem Jugendfreund Isajef begegnet und sie in fast schon kindlicher Spiel-Lust ihre Körper erforschen, knistert es gewaltig. Und es knallt, sobald Sergej Diaghilev das Gleiche von seinem Superstar, Schützling und Lover einfordert, denn offensichtlich ist das Machtgefälle, das Missbrauchspotential dieser Alliance, dieser Hassliebe, die Tanzgeschichte geschrieben hat.
William Moore interpretiert den Impresario der legendären Tanzcompagnie, der es mit seiner feinen Nase (und überragendem Kunstverstand) geschafft hat, den Ballets Russes zu Weltruhm zu verhelfen. Goecke versteht es, diese manipulative Figur mit wenigen Bewegungen – ein Tänzeln und Herumscharwenzeln – und Accessoires in ihrer ganzen Ambivalenz darzustellen: Pelzkragen, Gehstock und Hut – und fertig ist der Aristokrat, der den Takt angibt. Gleichwohl ist es gerecht, dass auch er von der Muse Terpsichore (Katja Wünsche) geküsst wird – und nicht nur Nijinsky, der Gott des Tanzes. Überhaupt lässt Goecke allen Figuren mit ihren Kämpfen und Krämpfen Gerechtigkeit widerfahren. Auch den Frauen. Irmina Kopaczynska, Polin auch sie, verkörpert die polnische Mutter, Mélanie Borel die furiose Romola und Elena Vostrotina – kalt und schlagkräftig – die geistige Umnachtung, den Tod.
Gut, durften vor dem tristen, aber würdigen Ende noch vier rasante Frauen in Rot so richtig schön Raum einnehmen, rennen, mit den Armen rudern, gestikulieren à la Goecke und so nicht nur Le Spectre de la Rose pervertieren, sondern auch an aktuellen Gender-Diskursen kratzen oder Queer-Perspektiven eröffnen – Marco Goecke sei Dank!
Evelyn Klöti