Sasha Waltz & Guests lassen es in der Volksbühne „rauschen“.
Sie ist wieder bei ihrem Ureigenen angelangt, muss keine vorgegebene Geschichte nacherzählen wie in „Roméo et Juliette“, keiner überstapazierten Musik neue tänzerische Akzente abgewinnen wie in „Sacre“. Vielmehr kann Sasha Waltz ganz aus ihrer Fantasie schöpfen, nach außen stülpen, was sie innerlich bewegt, worüber sie sinniert. Nach „Kreatur“ und „Exodos“, beides im Radialsystem, gelingt ihr mit „rauschen“ erneut ein anregendes Stück zwischen Tanz und Theater. Das hölzerne Halbrund der Volksbühne bietet dafür den Rahmen. Der helle Rundhorizont, wie sich ihn Bühnenbildner Thomas Schenk zusammen mit Sasha Waltz als Szenenbegrenzung ausgedacht haben, liefert gewissermaßen die andere Hälfte der Kammer für den Zuschauer, hat indes, später ersichtlich, noch eine wichtigere Funktion.
Weiß belegt sind Vorbühne und Szene, auf der eine Tänzerin ruckelt, als würde sie gleich zusammenbrechen, bis sie ihr Problem artikuliert: Sie vermisst Berührung, fühlt sich einsam. Lärm breitet sich aus, wird zur Collage; zwei Frauen reinigen sich die Hände im fahrbaren Waschbecken aus „Exodos“; vereinzelt agieren Tänzer mit renkenden Gliedern, beinah zum Trapez ausgelenktem Oberkörper. Harmonie, erkennt man, wird man hier vergeblich suchen, eher werden floskelhafte Sätze ausgestoßen: You do a great job; I am proud of you; your nose is beautiful; I need more space. Ruckartig wie Marionetten bewegen sich die Menschen, schreien, nehmen Abwehrhaltungen ein, hecheln rhythmisch, kommen aus Einzelaktionen kaum je zu Sammelbewegungen.
Es ist ein düsteres Stück über eine Welt, die nicht zu wirklichem Leben zu finden. I‘m so tired, klagt John Lennon in einem Song, während sechs Tänzer vor Liegenden wie vor Toten knien, Rekreation versuchen. Ein Ledergürtel wird knallende Peitsche; eine Frsu stürzt vom Podest als Zuflucht, derweil ein Mann von einem Partner gehoben wird. Lebensunfähigkeit kulminiert in Fluchten: ein Tänzer kriecht in die Plastikhülle einer Matratze; zwei teilen sich ein Stiefelpaar; einer pocht wütend an eine aufgestellte Liege, weil sich die vermeintliche Tür nicht öffnet. Ich bin nicht erreichbar, ruft jemand wohl in frommem Wunsch. Berührungen vollziehen sich in militärischem Funktionieren.
Dann erhält der Rundhorizont seine eigentliche Bedeutung: als Schriftfläche. Alive now sprüht jemand in Schwarz auf, und so beginnt Sasha Waltz‘ Abrechnung mit Europas Politik. Das „Back in the U.S.S.R.“ der Beatles meinte 1968 Anderes als heute, da Putin sein Land wieder groß wie die UdSSR machen möchte. Aus dirigiertem Gesumm wird Beethovens „Ode an die Freude“, doch zur Europa-Hymne rennt alles ohne Fortkommen am Platz. Do you enjoy to be a human, wird gefragt. Eines der stärksten Bilder: Am Trapez hängt kopfunter ein Mann, dem ein zweiter papierne Rechte vorsagt, bis der Hängende zu Boden stürzt, begraben unter dem Gestammel nutzloser Paragrafen. Als die Tänzer in Tafeln ihre Finger oder Knie eindrücken, blitzt für einen Moment die Radikalität von Vorgänger Johann Kresnik auf. Danach setzt rauschend das wahre Inferno ein.
Paare werden nackt geduscht, weil sich ihre Papierkleider auflösen; den Rundhorizont färben Spritzpistolen mehrfach rabenschwarz – die Welt verdunkelt sich zur Endzeitvision. Dass die Farbe immer wieder abläuft und das lichte Rund freigibt, trägt einen Hauch von Trost ein, den sechs barbusige Tänzerinnen, schwarze Engel oder rächende Amazonen, zunichte machen, wenn sie abrechnend in Glasröhren als Posaunen blasen. Das leitet das lange Finale ein. Während unsichtbare Hand schwarze Brühe schlierig über den Stoff läufen lässt, ihn bald ganz verdunkelt, setzen brustfrei alle Akteure, die Frauen das Haar offen, zum abstrakt geisterhaften Wirbel an, verstricken sich in Kämpfen. Wie in diese Zersplitterung, Zerfaserung des Daseins zischend und klirrend Klang fährt, wie Menschen als Kometen umherirren, als Puppen gleiten, eine Furie „C‘est fini la comédie“ brüllt, das hat fast antikes Ausmaß.
Und doch gelingt Sasha Waltz ein unerwarteter Lichtblick: Wiederum rinnt die Schwärze ab, gibt Hoffnung auf eine Zukunft für die gebeutelte Menschheit. Zugegeben, dies ist persönliche Interpretation dessen, was 100 Minuten ein Dutzend hervorragender Tänzerinnnen und Tänzer abliefert. Manche Szene mag zu lang geraten sein, manche kryptisch bleiben. Als Menetekel einer bedrohten Gegenwart ist „rauschen“ allemal ein Wurf.
Volkmar DRAEGER
Alle Fotos von Julian Röder
Wieder 9.+10.3., 25.-29.4., Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, Tickettelefon 240 65 777, www.volksbuehne-berlin.de