von Angela Reinhardt
Das Ballett der Semperoper ist nach den Nationalballetten in Kanada und Australien erst die dritte Kompanie, der John Neumeier sein 25 Jahre altes Opus magnum anvertraut, und sie ist das erste deutsche Ballettensemble. In Dresden, wohin Neumeier seit Vladimir Dereviankos Zeiten gute Verbindungen hat, war die gesamte Aufführungsserie sehr schnell ausverkauft und auch in einer der letzten Aufführungen für diese Spielzeit erhob sich das gesamte Parkett geschlossen zur Standing Ovation. Obwohl „Nijinsky“ seine emotionale Wucht auch ohne genaue Kenntnis der Ballettgeschichte entfaltet, verrät das Ballett viele seiner Geheimnisse erst bei mehrfachem Sehen – weil Neumeier so oft mehrere Schauplätze vermischt, weil die eher impressionistische Form keinerlei Zugeständnisse an die traditionelle Erzählweise macht, wie sie der Choreograf etwa in seinem „Sommernachtstraum“ oder der „Kameliendame“ exemplarisch weiterentwickelt hatte.
Wir sehen kein linear erzähltes Handlungsballett, sondern eine tanztheatralische Collage in Mosaik- statt Revueform, dicht ineinandergreifend, manchmal sogar pointilistisch in ihrer Flut von Andeutungen – ein Seelenpuzzle, das unzählige Fakten aus Nijinskys Leben vermischt, überhöht, assoziiert. Wohl ist der Rahmen, der letzte Auftritt des berühmten Tänzers in St. Moritz, vorgegeben, aber schon von Beginn an vermischen sich ständig die Ebenen: Nijinskys Eltern und Geschwister, die Waganowa-Schule, Ehefrau Romola de Pulszky und Impresario Serge Diaghilew, die reiche Gesellschaft der Jahrhundertwende und der Krieg. Mit dem Einsetzen von Rimsky-Korsakows „Scheherazade“-Musik entfaltet sich, als nach dem schroffen Auftakt endlich die lauten Stimmen schweigen, die Magie des Balletts auf der Bühne, zunächst die schönen, reinen Linien der St. Petersburger Klassik, dann die ganze Fantasmagorie der Balletts Russes; „Nijinsky“ ist auch beispielhaft dafür, wie man Ballettmusik sinnvoll umdeutet.
Martí Gutiérrez, Richard House, Joseph Gray © Semperoper Dresden/Foto: Admill Kuyler
Mit wenigen Bewegungen setzt Neumeier seinen Titelhelden in Beziehung zur Außenwelt, vor allem aber zu den vielen Figuren, die er als Künstler auf der Bühne verkörpert hat – zum Harlekin, dem Geist der Rose, zum Goldenen Sklaven, dem Faun oder Petruschka. Eine Signaturbewegung wie das machtlose Schütteln der behandschuhten Hände Petruschkas oder die Pose des verführerisch hingegossenen Goldenen Sklaven, und schon verschwindet der Mensch Nijinsky in einer Fiktion. Manchmal betrachtet er seine Alter Egos von ferne, verliebt sich wie die Zuschauer oder gar seine eigene Frau in die Figuren. Ständig und viel zu leicht gleitet er in seine Rollen zurück, die durch das Muscle Memory der Balletttänzer zu seinem Körper gehören, und gleichzeitig zersplittert seine Persönlichkeit in tausend Scherben. Definiert er sich nicht eigentlich über seine Rollen, als der Verführer, der faunische Narzisst, der traurige Clown, gibt es überhaupt ein Zentrum, ein Ich? Immer stärker wird deutlich, was diesen Menschen zerreißt, der sich in seinen Figuren auflöst, der nie weiß, ob man ihn oder den berühmten Künstler liebt, der die Schönheit des klassischen Balletts in Vollendung zeigt und gleichzeitig gebrochene, wilde Visionen für dessen Zukunft hat, der in seinem Liebhaber Diaghilew einen tröstenden Vater wiederfindet und gleichzeitig den Puppenspieler, der ihn an die Welt verkauft.
Joseph Gray © Semperoper Dresden/Foto: Admill Kuyler
© Semperoper Dresden/Foto: Admill Kuyler
Nicht nur stellt Neumeier durch Blicke, Spiegelungen oder Parallelen die subtilen Beziehungen zwischen seinen Figuren her, perfekt durchdacht ist sein Ballett auch darin, welche Rollen von den gleichen Tänzern gespielt werden – der Irrenarzt etwa, mit dem Romola ihren Mann betrügt, ist identisch mit Nijinskys Vater, der die Mutter betrogen hat; das Leben imitiert die Kunst, wenn der Betrug Romolas mit dem Arzt zur Dreier-Konstellation aus „Petruschka“ wird, mit der armen Puppe als Opfer. Neumeiers Ausstattung enthält gerade so viel Historie in den Bühnenbilder und Kostümen, dass die Ballets Russes evoziert werden, bleibt aber dennoch abstrakt genug, um die Vergangenheit als Zitat, Erinnerung, Gedankenfetzen erkennen zu können, und Nijinsky als einen Fremden in der Welt.
Auch wie der Jahrhunderttänzer direkt an der Grenze zwischen Ballett und Ausdruckstanz arbeitet, zeigt Neumeier, nämlich im Impuls der wenigen Choreografien Nijinskys für die Entwicklung des Balletts in Moderne. Der Stil ist stark unterschiedlich und erstaunlich modern für Neumeier, immer wieder stehen kantig-zuckende, fast spastische Bewegungen im bewussten Kontrast zu den schönen Linien des Balletts. Neben den Signaturmotiven der einzelnen Figuren zieht sich vom allerersten Solo an das Bewegungsmotiv des Kreises durchs Stück, der sich später in allen Zeichnungen des schizophrenen Tänzers finden wird – zeigt der Kreis das Chaos, den Strudel der Welt, oder ist der Port de bras der gerundeten Arme als La Couronne über dem Kopf das Zeichen der vollendeten Harmonie und Schönheit, die Nijinsky sucht?
Joseph Gray, der in Dresden neben James Kirby Rogers die Titelrolle tanzt, ist ein manchmal sehr jungenhafter Vaslaw Nijinsky, nahbarer und verletzlicher als etwa Alexandre Riabko, der die Rolle in Hamburg über Jahrzehnte definierte. Völlig verloren wirkt er in seinem Hochzeitsanzug, wenn er neben Romola steht, wenn ganz am Ende alle äußeren Hüllen und verkleideten Figuren verschwinden und er als Mensch, mit Tränen der Verzweiflung in den Augen, in seiner Krankheit und Verzweiflung untergeht. Bianca Teixeira verleiht Romola ein lateinamerikanisches Glühen statt blässlicher Aristokratie, macht aber den endlosen Kampf mit der Schizophrenie ihres Ehemannes sehr glaubhaft, nachdem sie jeglichen Zugang zu ihm verloren hat. Diaghilew dagegen ähnelt hier in seinem Frack eher Fred Astaire – Ivan Urban war in Hamburg immer der ferne Magier und Beobachter, der Nijinsky im Grunde besser verstand als Romola. Richard House aber fehlt dieses Geheimnis, das Tröstende, die künstlerische Vision; das schafft ein Ungleichgewicht. Unter den Bühnenfiguren Nijinskys fällt Moisés Carrada Palmeros als sinnlich-geschmeidiger Goldener Sklave und Faun auf, Jenny Laudadio bleibt als Bronislawa Nijinska streng und karg, verausgabt sich erst als Jungfrau in „Sacre“. Großartig ist auch Vincenzo Mola als Stanislaw, Nijinskys kranker Bruder.
Bianca Teixeira, Joseph Gray © Semperoper Dresden/Foto: Admill Kuyler
Joseph Gray © Semperoper Dresden/Foto: Admill Kuyler
Das Corps de ballet wird vom Fieber der Diaghilew-Epoche mitgerissen, wirkt noch nicht ganz so synchron, so prägnant wie in Hamburg. Dort aber gehört „Nijinsky“ zum regelmäßigen Repertoire, und jede Besetzung des Werks tanzt heute im Grunde gegen die Schatten der Bubeníčeks, der Riabkos, Urbans, Riggins‘ oder Polikarpovas an. Dafür vermittelt die Dresdner Staatskapelle unter Simon Hewett den Rausch der Ballets Russes und den Schrecken von Dmitri Schostakowitschs Elfter Sinfonie auf grandiose Weise und mit exquisiten Instrumentalsolisten. Zur bleiernen Schwermut und dem Sturmgeläut der Sinfonie brennen Neumeiers Bilder immer eindrücklicher – die letzten, leisen Erinnerungen Nijinskys an die Geborgenheit seiner Familie, der Schlitten, auf dem Romola den Verlorenen durch den ewigen Winter der Weltgeschichte zieht, die Otto-Dix-hafte Bedrohlichkeit der High Society und der stetige, schicksalshafte Zug der Weltkriegssoldaten im Hintergrund. Allmählich verschwinden all die bunten Ballets-Russes-Kostüme unter Uniformjacken, die Ballettfigurinen werden verrückt und sterben schließlich, bevor der Gott des Tanzes sich in seinen Stoffbahnen kreuzigt. Natürlich ist „Nijinsky“, diese schönste, weil in seinem ureigenen Idiom verfasste Hommage an den zerrissenen Tänzer, auch ein Antikriegsballett und zeigt bedrückend aktuell, wie ein Mensch an der Welt verzweifelt.