Ein Traumballett nennt Karl Alfred Schreiner sein neues „Undine“-Ballett am Münchner Gärtnerplatztheater. Und es ist natürlich ein Traum, dass überhaupt eine Ballett-Aufführung unter Corona-Bedingungen zustande kommt. Getrieben von Sehnsüchten, erleben wir hier eine mystische Unterwasser-Bevölkerung. Die Nixen, die sich da unter einer kleinen Plastikfolie an der Rampe wie in Zeitlupe räkeln und sanft wie Tang im Wasser hin- und herwiegen, stellen immer mal wieder die geschlossenen Beine hoch und beschreiben einen eleganten Bogen – passend zu Gustav Mahlers nachgelassener, unfertiger Zehnten Symphonie, die im von Mahler noch selbst ausgefertigten Anfangs-Adagio die Bogenstruktur aller melodischen Ereignisse geschickt aufnimmt.
Ein geradezu erstarrter Raum tut sich auf, in dem weiter nichts passiert als dieses musikalische Auf und Ab, minimalistisch aufgenommen mit sanften Armbewegungen. Etwas Schmerzliches bestimmt die Atmosphäre, die die beiden alternierenden, gelegentlich dissonantenThemen aufspannen. Dann verschwinden die Nixen wieder bis auf eine, Undine, die interessiert zuschaut, wie sich sozusagen am Ufer des Gewässers Menschen einfinden. Dabei zeichnen die Plexiglasscheiben, hinter denen Gestalten auftauchen, eine wie durch Wasser verzerrte Sicht.
Was die dort sich tummelnden Herren treiben, ähnelt stark den Bewegungen der Nixen – nur dass es sich nicht sanft und rund gestaltet, sondern eher an ein dynamischeres, eckigeres Streichen erinnert. Damen in kurzen grünen Kleidchen gesellen sich dazu. Beine schnelzen schnell hoch, Ellbogen werden ausgefahren und angewinkelt. Herren und Damen mischen sich, tanzen aber selbstbezogen und selten mit einem Partner. Und dann stellt sich eine Frau im Badeanzug mitten unter sie, vollführt die selben Bewegungen. Es ist Undine, die, ihrem Wasser-Element entsprungen, sich in die Menschenwelt wagt. Nur einen kurzen Moment lang ist sie unsicher auf ihren neu gewonnenen Füßen, dann stürzt sie sich ins Getümmel. Und bald schon begegnet sie einem Partner. Die Bewegungen spiegeln einander neugierig, bis sich ein zögerlicher Pas de deux entwickelt. Keines, das Leidenschaft verrät. Sondern eher ein Herantasten an die andere Lebensform, die geheime Sehnsüchte und ein Verstehen in sich selbst entdeckt.
Natürlich endet alles wieder im Wasser, wo nun auch männliche Nixen mit den Damen wallen wie zu Beginn. Laut Sage ertrinken die Herren, die sich mit Seejungfrauen einlassen, wenn sie ihnen in deren Welt folgen. Aber Karl Alfred Schreiner nutzt den Undine-Mythos für einen weitreichenderen Vorstoß. Die Wasserwesen stehen für das weibliche Prinzip, das natürlich auch in Männern west, wie umgekehrt Frauen durchaus männliche Elemente kennen. So doppelt er die Pas de deux von Undine und dem Mann mit anderen Paarungen: mal sind es zwei Männer, mal zwei Frauen, die da miteinander tanzen. Und auch Undine und ihr Herr tauschen mittendrin die traditionellen Rollen: sie übernimmt den führenden Part und er schmiegt sich in geschmeidige Posen. Karl Alfred Schreiner lässt gar so etwas wie einen neuen mit dem Wasser-und dem Welt-Element vertrauten Menschen auftreten, denn zur Dame im Badeanzug gesellt sich nun auch ein Herr in Badehose – ein Paar, das sich auf Augenhöhe begegnen konnte, wenn es denn Hoffnung gäbe, am Ende nicht wieder in Einsamkeit zu verfallen.
Was den Abend etwas beeinträchtigt ist, dass vieles in Dunkel gehüllt erscheint und es keine wirklichen Protagonisten gibt. Alle sind alles. Und Mahlers Musik flirrt schmerzlich über der Szenerie, hat er darin doch todkrank selbst persönliche Herz-Schmerz-Erfahrungen verarbeitet, gar ein Purgatorio. Dirigent Michael Brandstätter leitet des Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz nuanciert.
Erlösung gibt es keine. Die gespannte Aufmerksamkeit des Zuschauers kann sich nirgendwo festhalten. Sie nimmt wunderbare Einzelteile wahr, ermattet aber in Laufe der 80 minütigen puren Atmosphäre. Am Ende wallt er fast mit den Nixen schwankend in seinem Sessel. Aber das kann auch durchaus so gewollt ein.
Ute Fischbach-Kirchgraber