Edward Clug und Jürgen Rose inszenieren einen neuen „Nussknacker“ für Stuttgart
Fotos ©Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Ziemlich unfassbar: Der letzte „Nussknacker“ auf der Stuttgarter Opernhausbühne fand 1966 statt, es war John Crankos leider verlorene Version mit der Fee Fitzliputz anstelle des Paten Drosselmeier. Das traditionsreiche Weihnachtsstück, mit dem amerikanische Kompanien einen Großteil ihres Budgets einspielen, kam hier nur zwei Spielzeiten lang als die verschrobene, aber so poesievolle Kammerspielfassung von Marco Goeckes erstem Handlungsballett vor. Nach fast 60 Jahren gab Ballettintendant Tamas Detrich nun eine neue Version beim rumänischen Choreografen Edward Clug in Auftrag, der in Stuttgart bisher nur abstrakte Kurzballette schuf, sich aber anderswo mit „Peer Gynt“ oder „Faust“ bereits als bildermächtiger Geschichtenerzähler erwiesen hatte. Das ist er auch hier, wo er seinen ersten großen Klassiker inszenierte – und dabei sehr viel näher an der vom traditionellen Libretto und dem musikalischen Schema vorgegebenen Handlung blieb, als manche erwarten wollten. Weihnachtsbaum, Schneebälle, Familienfeier, der Kampf der Mäuse gegen die Zinnsoldaten – alles da. Nur im zweiten Akt bauen Clug und Dramaturgin Vivien Arnold gründlich um, das Süßigkeitenland Konfitürenburg ist gestrichen, stattdessen irrt die Heldin Clara auf der Suche nach ihrem Nussknackerprinzen durch eine von riesigen Walnüssen geprägte Traumlandschaft, wo ihr die Tiere des Waldes und alle Spielzeuge aus dem ersten Akt helfen.
Die Ausstattung lieferte noch einmal die 85-jährige Legende Jürgen Rose, und es ist ein perfektes Familienstück geworden – liebenswert, lustig und mit feinen, ironischen Anmerkungen zur klassischen Vorlage sowie deren heutiger Beurteilung. Die Stars des Abends sind zwei Kamele, die bei der St. Petersburger Uraufführung 1892 definitiv nicht vorkamen: Sie tapsen mit stoischer Ruhe durch den arabischen Tanz, formen die Hälse zum Herz und schütteln dezent ihre klugen Köpfe, als Clara mit einem schelmischen Lächeln den heute so umstrittenen Schleiertanz anfordert. Solche Pointen und parodistische Anflüge wie die alkoholselige Oma verstreut Clug im ganzen Abend: Kinder werden die Aufführung lieben und Erwachsene, die unwillkürlich wieder zum Kind werden, bekommen zwischendurch Gelegenheit, über den alten Schinken oder auch gerne sich selbst zu lachen.
Der rumänische Choreograf pflegte bisher ein eher minimalistisches Vokabular mit kleinen, kurzen, gern geometrisch grundierten oder irritierenden Bewegungen, eher in Schläppchen als auf Spitze. Für seinen „Nussknacker“ entsorgt er zwar die weißen Perücken der klassischen Tradition, erweitert aber seine charakteristische à-terre-Sprache ins Klassische, etwa in große Gruppenarchitekturen für die Waldfeen, die hier mit Ästen im Haar und einer wunderschönen Waldkönigin die Schneeflocken ersetzen. Oder in virtuose Auftritte für die Spielsachen und Claras übermütigen Bruder, den sprungstarken Matteo Miccini. Der Abend mündet in einen freien, sehr schwungvollen Pas de deux, in dem der Prinz seine Clara wie beim Eislaufen im weiten Kreis um sich schwingt oder in eine Über-Kopf-Hebung hochwirft. Ihr Leitmotiv der nachdenklich aneinandergelegten Hände ist ganz Edward Clug, nicht aber das weite Ausholen, die Grand Jetés über die Bühne – bis hin zu einer Herzform der Arme, ähnlich und doch ganz anders als in „Onegin“, ist der gelöste, glückliche Tanz eine Hommage an John Crankos emotionales Fließen und Gleiten, ein wenig nostalgisch und doch so schön – ein Ballett ganz speziell für Stuttgart. Elisa Badenes trifft als Clara alle Zwischentöne zwischen schalkhaftem Kind und liebender junger Frau, Friedemann Vogel funktioniert sogar als ungelenker Nussknacker noch mit schönen Bewegungen und wird von einer traurigen Puppe zum warmherzigen, noblen Prinzen erlöst. Am Ende sitzen sie zum Kuss in der Nuss auf einem Bänkchen.
Wer das alles bewirkt, ist Jason Reilly als wunderlicher Drosselmeier, der erstmal genügend Sekt in sich reinkippt, bevor er die Kinder mit seinen Zaubereien und einem Schattenspiel beglückt. Er ist hier auch fürs Happy End zuständig, wandert mit Clara durch ihren Traum, weist ihr den Weg des Mitgefühls und hilft ihr, den Prinzen von seinem hässlichen Äußeren zu erlösen. Der windige Pate klaut auch mal einen hölzernen Nussknacker, wenn er einen braucht, döst zwischendurch ein und erweist sich als eine Art Master of Ceremonies, der ganz zuletzt das Licht ausmacht. Clug zeigt eine junge Heldin, die – eine kleine, schöne Szene nach dem Pas de deux – sich nur schwer von der Kindheit verabschiedet, sie versteckt sich hinter ihren Spielsachen. Da ist viel von „Toy Story“ drin, ein wenig „Der geheime Garten“ und eine große Liebe zu Kindern und ihrer Fantasie.
Wie in jedem traditionellen „Nussknacker“ haben auch hier die Tänzer nur kurze Auftritte, die quasi durchweg überqualifizierten Stuttgarter werfen sich mit Verve in ihre Nummern, und mit jener glitzernden Prise Ironie, die Edward Clug statt Puderzucker verstreut. Den Blumenwalzer bestreitet ein Trupp sehr schicker Schmetterlingsdamen, Fritz und seine Freunde versuchen sie mit Fangnetzen zu erhaschen. Das Divertissement wird zur Revue: Claras Opa zwirbelt als großer Maikäfer seinen Gehstock wie Fred Astaire und lässt die kleinen Käferkinder hochfliegen (die Danse chinoise), rasante Kosaken umschwärmen kreiselnde Matrjoschkas, Reiter jagen durch, Eichhörnchen werfen Nüsse, drei Toreros platzen vor Macho-Stolz. Der mächtige Hirsch, der dem ersten Akt von oben an der Wand als Jagdtrophäe zusieht, stößt nachher gemeinsam mit seiner Rehfrau genau diese Wände weg, um die enge Bühne zum Traumland zu weiten.
Jürgen Rose wurde einst 1962 in Stuttgart von John Cranko für „Romeo und Julia“ entdeckt, dort trägt Julia ein berühmtes Kleid in einem besonderen, hellen Rot. Mit derselben Farbe verabschiedet Rose sich nun, sollte dies tatsächlich seine letzte Inszenierung sein, nach einer langen, langen Karriere, in der er fast alle Meilensteine des Stuttgarter Ballettrepertoires ausgestattet hat: Auch die junge Clara wirbelt in „Rose-Rot“ über eine Bühne, die manchmal recht düster wirkt. Wohl spielt die Handlung in der dunklen Jahreszeit und der zweite Akt in Klaras Traum – aber der kleine Kinderdrache, der als eine von Edward Clugs vielen ironischen Pointen über die Bühne irrt und die Toilette sucht, geht fast im Dunkeln unter. Rose hat einen Weihnachtsmarkt mit einem oberbayerischen Spielzeugverkäufer entworfen, das gemütliche Weihnachtszimmer bei der fröhlichen, ein wenig verpeilten und allerliebst gespielten Großfamilie Stahlbaum, und dann ein nussbraunfarben leuchtendes Märchenland voll knallbunter Spielsachen. Wolfgang Heinz dirigiert Tschaikowskys schönste Ballettpartitur farbenreich und zügig, zwei Stuttgarter Kinderchöre lassen ihre Melismen aus der Loge herabschweben. Für eine Art Visionsszene hat Heinz ein Tschaikowsky-Klavierstück im entrückten Glöckchenklang der Celesta arrangiert. Edward Clug begeistert die Zuschauer von morgen mit der ganzen Magie des Theaters und sorgt dafür, dass sogar die abgebrühten „Ich mag’s lieber moderner“- oder „Ist mir nicht klassisch genug“-Extremisten für zweieinhalb Stunden lächelnd an das Gute im Menschen glauben.
Angela Reinhardt