"Dornröschen" Ch. Cristian Spuck © Ida Zenna
Kritiken

Am Opernhaus in Zürich erwacht Dornröschen aus dem (Corona)Schlaf

Was für ein Glück, was für ein Luxus in Zeiten der Pandemie: Das Ballett Zürich startet mit einer großen Produktion in die Saison 20/21. Ballettdirektor Christian Spuck präsentiert sein „Dornröschen“ – gespickt mit Witz und feiner Ironie.

Grandios, gar luxuriös ist auch die Ausstattung. Denn Spuck hat das Dreamteam aus „Nussknacker und Mausekönig“ (17/18) für ein weiteres Tschaikowsky-Ballett verpflichtet. Die opulenten Kostüme und extravaganten Perücken von Buki Shiff grenzen an Haute Couture, und Rufus Didwiszus zaubert ein lichtes Dornröschen-Schloss auf die Drehbühne, das mannigfaltige Ansichten und Zimmerfluchten ermöglicht. Inspiriert von den ikonischen Drehungen en attitude in Marius Petipas Rosen-Adagio, macht es erfahrbar, wie schnell ein Kind wächst und 100 Jahre wie im Schlaf verstreichen. Spannend ist, dass die Kostüme stilistisch rückwärts in Richtung Romantik wandern. Die Zeit ist stets präsent in Form von drei Greisinnen, die entweder eine Uhr oder eben die schicksalshafte Spindel zücken.

Grüner Fee (Wie Chen), Gold Fee (George Susmann), Rote Fee (Mark Geilings), Fliederfee (Jan Casier), Silberfee (Iacopo Arreqgui) © Gregory Batardon

130 Jahre nach der Uraufführung des klassischen Meisterwerks in St. Petersburg äußert sich Spuck zu seiner Version: „Petipas Fassung ist dabei ein Vorbild, das ich gelegentlich zitiere, durch das Installieren revuehafter Elemente, aber auch hinterfrage und konterkariere“. Er löst Figuren aus tradierten Rollenklischees und kondensiert das Ballett zu Gunsten des Märchens auf zwei Akte, auf Kosten des Divertissements im 3. Akt. Das Vergnügen kommt trotzdem nicht zu kurz, weil er die Feen mit Männern besetzt und die Figur der Carabosse (William Moore) ins Zentrum rückt. Was, wenn ein eigentlich böser Charakter auch gut ist? Und die gute Fliederfee (Jan Casier) dümmlich und selbstsüchtig? Und Aurora – die Maleficent-Fantasy-Filme standen Pate beim dramaturgischen Herumdoktern! – eigentlich ein Feenkind?

Im Prolog stehen 7 Kinderwagen auf der Bühne. Das Königspaar (Inna Bilash und Lucas Valente) stiehlt sich ins Feenreich – und ein Baby! Aurora – das Kind von Carabosse, die fortan zwischen Wut und Schmerz dem Königspaar gegenüber und ihrer Liebe zu Aurora hin- und hergerissen ist. Die anderen Feen stolzieren mit den ihnen anvertrauten Säuglingen herum – wie die stolzen Väter, die mit ihren Babys auf der Zürcher Seepromenade defilieren, wenn die Nanny gerade frei hat. Elena Vostrotina gibt am „Dornröschen-Hof“ die kühle Gouvernante, Matthew Knight den verwirrten Zeremonienmeister, beide verbindet eine Hassliebe, die sich in verwickelten Pas de deux’ und effektvoll gespielten Dialogen zeigt. Die Kommunikation zwischen den Solisten und dem Corps de ballet funktioniert bestens, die Gruppenchoreographien sowohl für die geladenen Gäste als auch für das Personal sind abwechslungsreich. Die Feen – diese schicken Dragqueens in Hosen, Jackett und leise raschelnden Flügeln – könnten leicht zu einer Travestieshow verkommen, das tun sie aber nicht. Denn sie bringen nicht nur edle Farben, sondern auch neue Facetten von Vater- bzw. Mutterschaft – kurz: Feenschaft – mit ins Spiel. Und Aurora ist freilich nicht nur die Prinzessin aus dem Märchen, die wartet, bis sie wachgeküsst wird, sondern eine selbstbewusste junge Frau: Michelle Willems, die bereits im „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ brilliert hat, glänzt auch als Aurora. Im choreografisch gut gelösten, übermächtigen Rosen-Adagio führt sie die eitlen Prinzen vor. Ergreifend, wie sie am Spindelstich stirbt resp. in Schlaf fällt.

Aurora (Michelle Willems) und Prinz Désiré (Esteban Berlanga) und die Feen © Gregory Batardon

100 Jahre später tritt Prinz Désiré auf. Graffiti zieren das Dornenschloss, aber Esteban Berlanga gibt einen ganz und gar romantischen Prinzen. Melancholisch irrt er auf der Bühne herum, umgarnt von seiner Verlobten, flankiert von 12 Mädchen in Rosenkostümen und konfrontiert mit der Vision von Aurora inmitten von vier Doubles. Da verneigt sich Spuck vor der Klassik: «Dazu gehört eben auch ein grosser Auftritt der Damengruppe als Referenz an Petipa, der solche Szenen zur äussersten Perfektion geführt hat.», um diese sogleich wieder zu brechen: Die Feen schleppen den Schlafenden zu Aurora, aber die drei Prinzenküsse verfehlen ihre Wirkung. Erst ein keuscher Kuss von Carabosse erweckt sie zum Leben, zur Liebe zu einem Prinzen, den sie zuerst einmal kennen lernen muss, weswegen die Feentochter – sich ihrer Zauberkräfte gewahr werdend –  den ganzen Hofstaat einschläfert und mit dem Prinzen das Weite sucht.

Aurora (Michelle Willems) und Prinz Désiré (Esteban Berlanga) © Gregory Batardon

Einen Kilometer weit weg vom Opernhaus befindet sich der Dirigent Robertas Šervenikas mit der Philharmonie Zürich im Probensaal. Die Musik wird per Glasfaserkabel mit Lichtgeschwindigkeit übertragen und erklingt verblüffend echt aus dem leeren Orchestergraben. Den großen Applaus für Christian Spucks „Dornröschen“ und die beeindruckende Leistung des Ballett Zürich können die Musiker/innen hören.

Nun gilt es einfach Daumen drücken und Schutzmaßnahmen einhalten. Denn wenn einer aus der Kompanie Covid hat, müssen alle in Quarantäne, und Vorstellungen werden abgesagt. Bloß kein Dornröschen-Schlaf mehr fürs Ballett!

Evelyn Klöti