Tanzmedizin mit ta.med
Was Werkzeugpflege mit Profitanz zu tun hat:
Stellen wir uns einen erfolgreichen Sternekoch vor: er ist leidenschaftlich und kreativ, begeistert seine Gäste mit feiner und edler Küche. Penibel geschnitten, millimetergenau drapiert, appetitlich angerichtet bilden diese Kreationen einen Augen- und Gaumenschmaus. Dies gelingt sicherlich durch hochwertige Produkte und mutig-neue Kompositionen. Doch ist eine der Essenzen in der Sterneküche die Art und Weise des Schnitts und der Verarbeitung. Ohne Zweifel benötigt dieser Koch professionelles und verlässliches Werkzeug. Messer, die gefährlich scharf jeden Kürbis in kleinste Stückchen schneiden könnten, bilden die Grundvoraussetzung für das Kochhandwerk. Nicht umsonst sagt man, die Messer eines Kochs sind sein Heiligtum und dabei nicht nur von materiellem Wert. Sie werden in eigenen Taschen aufbewahrt und transportiert, täglich gereinigt und behutsam geschliffen. Mit einem minderwertigen Messer könnte er keine gute Arbeit verrichten, seinem Schöpfertum keinen freien Lauf lassen. Mit einem schlechten Messer lässt sich nun mal schwierig schneiden.
Die Langlebigkeit dieses Messers versiegt, sobald es falsch oder unzureichend gepflegt wurde. Jedes gute Werkzeug benötigt die entsprechende Pflege und Wartung. Doch wie behandeln wir „Werkzeug“ aus Fleisch und Blut? Das ein schlagendes Herz in sich trägt und viele Muskeln, Sehnen und Knochen versorgt, die unermüdlich funktionieren müssen? Sportler*innen haben nur ein „Werkzeug“: ihren Körper. Dabei denken wir schnell an fitte Fußballer oder Athlet*innen bei Olympia. Ihre „Werkstatt“ führen sie stets mit sich; ein Team aus Ärzt*innen, Therapeut*innen, Ernährungsberater*innen und Personal Coaches reist von Ort zu Ort mit, um die nötige Rundum-Versorgung zu gewährleisten. Nur so können sie die entsprechenden Leistungen erbringen.
Tänzer*innen sind ebenfalls Hochleistungssportler*innen, und auch ihre Körper sind ihr einziges „Werkzeug“. Wie sieht es aber mit ihrer „Schleifstatt“ aus? Andreas Stommel ist Physiotherapeut und betreut Tanz-TV-Produktionen wie „Let’s Dance“ oder „Dance Dance Dance“, Bühnenshows wie „Magic of the Dance“ oder das Musical „Beat it“. Außerdem betreut er Ballettkompanien wie die der Deutschen Oper am Rhein und ehemals das Deutsche Fernsehballett. Er begleitet Tourneen von namenhaften Sänger*innen wie Helene Fischer, Andrea Berg oder Vanessa Mai und gibt dort auf ihre Tänzer*innen und deren Gesundheit Acht. Doch leider nur, soweit es die Umstände erlauben. Die Kompanie des Balletts am Rhein ist dankbar, dass es überhaupt Physiotherapeuten vor Ort gibt; im 30-Minuten-Rhythmus sind Physiotherapeuten mindestens drei Mal die Woche zwischen 11 und 18 Uhr anwesend und versuchen die müden und teilweise beschädigten „Werkzeuge“ der Akteur*innen zu reparieren. Doch diese Zeit ist viel zu kurz, um eine fachlich fundierte Anamnese zu stellen und Krankheitszusammenhänge berücksichtigen zu können. Dass die Pflege des Werkzeugs entscheidend für seine erfolgreiche und langlebige Nutzung ist, haben wir bereits festgestellt. Und wenn wir nun einen menschlichen Körper als Werkzeug betrachten, das täglich Hochleistung vollbringt, sollte dieses lebende Instrument doch erst recht besonders viel Beachtung, Behandlung und Inspektion erhalten. Wieso beschäftigen viele Tanzkompanien jedoch weder Physiotherapeut*innen noch ermöglichen sie ihren Tänzer*innen regelmäßige Kontrollbesuche bei medizinischem Fachpersonal? Nach wie vor sieht die Tänzer*innenlobby mager aus, und Vereine wie ta.med – Tanzmedizin Deutschland e. V. wollen ihnen ein Sprachrohr sein und Missstände sichtbar machen: Die Tänzer*innengesundheit steht – anders als in anderen Profi-Sportarten – nicht an erster Stelle. Der Druck der Intendant*innen, Choreograf*innen und Ballettmeister*innen setzt nicht nur ihnen zu. Auch Andreas Stommel spürt den stressigen Probenalltag eines Tanzensembles; zwischen Proben- und Trainingspausen können zwar kurze physiotherapeutische Behandlungen eingeschoben werden, um das schlimmste zu verhindern. Sehen Verletzungsfolgen aber Schonung und Belastungspausen vor, damit eine Heilung überhaupt gelingen kann, stößt der Physiotherapeut an seine Grenzen. Den Tänzer*innen droht der Verlust ihrer Rolle oder sie fürchten gänzlich um ihre Engagements.
Ihr Versicherungsstatus wird ihnen zusätzlich zum Verhängnis, da sie meist über die KSK (Künstersozialkasse) versichert sind und lange auf Fachärzt*innentermine für z.B. kurzfristig benötigte MRT-Bilder warten müssen. (Bild s/w Tänzerin Rücken) Ihre Gesundheit steht wahrlich auf Messers Schneide, denn der hohe Anspruch der Choreografien belastet und überlastet meist unvermeidbar ihren Bewegungsapparat; repetitive Beanspruchung durch unzählige Proben und Aufführungen hinterlassen ihre Spuren, wenn Shows und Stücke für längere Zeit gleichbleiben. Sind bereits vorher muskuläre Dysbalancen vorhanden, ist es fast unmöglich, echte Wiederherstellungsarbeit zu leisten – selbst für erfahrene Pysiotherapeut*innen wie Andreas Stommel. Was folgt, sind Schulter-Nacken-Verspannungen, Hüftbeschwerden, Schmerzen in den Füßen, Knien und im Lendenwirbel-Bereich. Die häufigste Ursache ist dabei nach wie vor die fehlende Prävention: Das Messer muss geschliffen werden, bevor es „verstumpft“ – sonst ist dieses kostbare Werkzeug schnell zerstört.
Die physische Gesundheit von Tänzer*innen bedarf offensichtlich höherer Priorisierung, eine Optimierung dieser Situation scheint mit Blick auf andere Profi-Sportarten nicht unerreichbar, sofern sich der Fokus endlich verändert! Doch unser geliebter Tanz ist tückisch, denn die fiktive Mühe- und Schwerelosigkeit, die uns daran so fasziniert, verschleiert die harte Wirklichkeit, die sich hinter den Schweißperlen in den lächelnden Gesichtern auf der Bühne verbirgt.
Sara Wankmüller