© Rolf K. Wegst
Kritiken

Hasenstarke „Winterreise“ in Halberstadt

Tarek Assams Uraufführung begeisterte wegen hoher choreografischer Sorgfalt

Von Alexandra Karabelas

Alles fängt an mit dem Hasen. Im Dauerlauf prescht er, als Bewegungsbild an die linke Wand neben der Bühne projiziert, durch die Landschaft. Irgendwann bemerkt man ihn dann langohrig auf der Bühne kauernd in der Nähe des Flügels, der ebenfalls links steht. Bewegungs- und kostümmäßig ist der Hase, getanzt von Daniele Cavuoti, sehr gut getroffen. Ein dunkelgrau belassener Kopf, mehr klare Kontur denn Physiognomie, mehr Körper als Pelz, ein Rammler, keine Häsin, ein deutscher Hase, und natürlich denkt man sofort an Dürer oder Beuys oder am besten gleich an beide zusammen. Die hinteren Beine in markante Bewegungen gebracht, schleppt er ein Quadrat grünen Kunstrasens mit sich herum, breitet es aus, zieht es an andere Stellen und rollt es wieder zusammen. Vier Quadratmeter Heimat in einer nebligen und unwirtlichen Niemandslandschaft symbolisch auf die deutsche Theaterbühne gebracht in Halberstadt. Aber auch vier Quadratmeter „Natur“ als Sinnbild aller Kreisläufe des Lebens, in die man nichts Anderes kann als zu vertrauen, gerade dann, wenn Welt und Menschen gespalten sind, auseinandergetrieben, gelähmt oder ganz kaputt. Bei Beuys war der Hase das Symbol für Inkarnation schlechthin. Fehlt nur noch der Honig, denkt man, doch diesen braucht Tarek Assam dann doch nicht. Seine neue Inszenierung der „Winterreise“ von Franz Schubert am Großen Haus in Halberstadt bleibt werkgetreu im Melancholischen, und die Hasenfigur ist nur einer von mehreren genialen Kniffen in dieser durchweg beachtenswerten Uraufführung, die letzten Freitagabend ein groß herbeigeströmtes Publikum restlos begeisterte.

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Ein zweiter Kniff bestand in der Tatsache, dass Assam, der zu Beginn der Spielzeit das neue Ensemble Tanz Harz des Nordharzer Städtebundtheaters übernommen hat, die Gesangsrolle durchaus üblich mit einer Mezzosopranistin, hier namentlich mit Regina Pätzer besetzt hatte, ohne dies weiter narrativ auszuführen. Schuberts lyrisches Ich in der „Winterreise“  konnte so nonchalant mal wieder gerade als Frau als universale menschliche Figur Wirkung entfalten. In seiner Inszenierung achtete Assam dabei gekonnt darauf, Pätzers wunderbare Darbietung des vierundzwanzig Lieder umfassenden Liedguts durchweg zu Choreografie und Soloklavier in Balance zu halten. Auf die Weise entstanden auf der Bühne drei Sphären: die Sphäre des Gesangs der wehmütigen, emotional packenden Verse, die einst der Dichter Wilhelm Müller verfasst hatte, als eigene Erinnerungen an eine Liebesbeziehung, die er als Soldat während der Befreiungskriege zu einer Geliebten im feindlichen Lager hatte. Müller war unehrenhaft entlassen worden und im Winter in seine Heimat zurückgekehrt, wo er seinen Gedichtzyklus in einer verbotenen Zeitschrift veröffentlichte. Schubert las sie dennoch und vertonte sie 1827 mitten im reaktionären Europa Metternichs, drei Jahre nach der Uraufführung von Beethovens neunter Sinfonie.

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Den zweiten „Raum“ schuf Musikdirektor und Intendant Johannes Rieger am Klavier mit seinem kraftvollen und doch ungemein nuancierten Spiel der Lieder. Ohne Schnickschnack und getragen von einem stimmigen, schlichten, aber wirkungsvollen Kostümbild in den Farben grau, beige, blau und weiß von Katharina Andes atmete und formulierte sich der Tanz schließlich in einen „dritten“ Raum neben Gesang und Klavier hinein. Die Melodien und Verse, ihre jeweils verschiedenen Dynamiken und Stimmungen trafen so im Auge der Betrachterinnen und Betrachter auf einen choreografischen Kosmos, der angesichts seiner hohen Qualität schlicht eine Augenweide ist. Der Stil der abstrakt gehaltenen und auf natürliche Expressivität vertrauenden Choreografie lässt sich am ehesten mit der klassischen Moderne des Zeitgenössischen Tanzes vergleichen – die Choreografie selbst mit einem komplex und fein gearbeiteten Gewebe aus sich immer weiter ausdifferenzierenden, sich immer erneuernden sowie mit Tempi und Bewegungsformen spielenden, oft kanonisch ablaufenden Bewegungsfolgen, die in unzähligen Momenten Unerwartetes bereit halten: Hier endete eine Sequenz mit einem überraschenden Schwung der Arme nach oben, dort fand das Trio zu nicht oft gesehen Hebungen kopfüber mit plötzlich nur sekundenlang wie verzweifelt zitternden Händen, die die eigenen Emotionen triggerten. Später musste der Hase erleben, wie die Menschen sein Wiesenstück besetzten. Überhaupt tauchte die Arbeit mit dem Pas de trois häufig und in spannenden Varianten auf, immer passend zu jeweiligen Lied, jedoch niemals abbildend. Regina Pätzers agierte innerhalb des Ensembles mit großer Präsenz, jedoch sich nie nach vorne drängend. Von Anfang an verbunden mit der Gruppe, mit ihr laufend oder von ihr umringt, dann wieder neben ihr, entfaltete sich die hohe gesangliche Leistung der Mezzosopranistin zuverlässig. Dem Publikum war so Raum und Zeit gegeben, sich innerlich ihrer Figur entweder zu nähern oder sie eher aus der Ferne zu beachten. Dadurch, dass Pätzer und die Choreografie insgesamt durchgehend die Form über die Emotion stellen, konnte Assams „Winterreise“ so als assoziationsreiches Kunstwerk in schweren Zeiten wirken, das auch schwierige Klippen wie die Präsentation des Klassikers „Am Brunnen vor dem Tore da steht ein Lindenbaum“ meisterte, indem Pätzer neugierig vom Hasen, getanzt von Daniele Cavuoti, beäugt wurde. Wer aber ist dieser Hase und was ist sein Schicksal im Stück? Auf dieses Rätsel steuerte Assams „Winterreise“ irgendwann zu. Viele Szenen später nimmt Cavuoti den Hasenkopf ab und überzieht sich eines der Kostüme, die die anderen tragen. Er wird schlicht ein Mensch unter Menschen, die zum Schluss innehalten und dorthin schauen, zum Publikum, wo „drüben hinterm Dorfe ein Leiermann“ steht.