von Horst VOLLMER
Seit dem 1. August ist Demis Volpi, Hamburgs neuer Ballettdirektor, offiziell im Amt. Zwei Monate später stellt er sein erstes Programm vor, und das ist offensichtlich programmatisch gedacht. Vier kurze Werke, die in nichts zusammenpassen. Die aber dem Hamburger Publikum zeigen, eher ausschnitt- als beispielhaft zwar, dass es in den zurückliegenden 50 Jahren – so lange und ein wenig mehr war John Neumeier Volpis Vorgänger – auch eine Tanzgeschichte abseits von Hamburg gab und gibt: Werke von Pina Bausch, Hans van Manen, Justin Peck und von Volpi selbst.
Die vier Werke erfordern zudem nur eine kleine bis mittlere Besetzung von vier bis 22 Tänzerinnen und Tänzern. So lässt sich aus der Aufführung nicht ablesen, ob das aus Alt- und Neuhamburgern gebildete Ensemble technisch und stilistisch schon zu einem Ganzen geworden ist (was es schon deshalb muss, weil sein Repertoire auf geraume Zeit noch zu einem stattlichen Teil aus den großformatigen, abendfüllenden Werken John Neumeiers bestehen wird). Demis Volpi scheint also nicht nur einen Plan für eine neue Hamburger Ballettdramaturgie zu haben (wozu er sich auch die langjährige Stuttgarter Dramaturgin Vivien Arnold nach Hamburg holte). Er verfügt, in Stuttgart als Hauschoreograph und als Düsseldorf-Duisburger Ballettdirektor darin geschult, offenbar auch über das praktische „Gewusst wie“, um sein Ensemble selbst dann gut aussehen zu lassen, wenn es sich gerade erst noch aufeinander einspielen mag. Überdies vernimmt man, dass er in bisherigen Gesprächsformaten das Hamburger Publikum im Sturm zu erobern vermochte: Nach sage und schreibe einem halben Jahrhundert der legendären Neumeier‘schen „Werkstätten“ und Moderationen ist das wohl ein weiteres gutes Zeichen für Volpis Anfang in Hamburg.
Alle Fotos: © Kiran West
Olivia Betteridge, Charlotte Kragh in „Adagio“
Silvia Azzoni, Jack Bruce in „The Wing With Feathers“
Der Anfang John Neumeiers in Hamburg fällt in das Jahr 1973, als gleichzeitig in Wuppertal etwas ganz anderes begann. Ein frühes Werk von Pina Bausch, der „Adagio“-Teil aus der im Dezember 1974 uraufgeführten Mahler-Choreographie „Adagio – Fünf Lieder“, eröffnet nun Volpis ersten Hamburger Abend. Das Stück machte seinerzeit Furore. Es verunsicherte das Publikum und spaltete die Kritik. Die einen sahen Neues entstehen, die anderen ein Ende besiegelt. Beide behielten recht. Das Neue manifestierte sich wenige Jahre später in Bauschs Tanztheaterstücken. Und zu Ende kam mit Bauschs Arbeit und deren Erfolg, der den Erfolg gleichgesinnter Tanzschöpfer und Tanzschöpferinnen jener Jahre überstrahlte, die Vorherrschaft des klassisch grundierten Tanzschaffens im Westen Deutschlands, so sehr es sich auch an vielen Orten um Erneuerung und Modernität bemüht hatte und bemühte.
Edmund Gleede beschrieb das Werk damals mit den Worten, er habe „selten eine so traurige, ge- und zerquälte Choreographie erlebt, selten so zerrissene, abgehackte Bewegungen, so schmerzhafte Zuckungen von Tänzern“. Heute sagt uns das mehr darüber, wie Tanz auf unseren Bühnen damals aussah (oder eben nicht aussah) und welche Seherfahrungen den Geschmack des Publikums der Zeit prägten, während das Stück selbst, aus dem Zeitkontext gelöst, nicht sonderlich beeindruckt. Es hat wenig bis nichts mit dem zu tun, womit Bausch später die Tanzgeschichte bereicherte, sondern zeigt sie noch stark unter dem Eindruck ihrer Ausbildung in Essen und ihrer Jahre in New York. Ganz aus der Musik geschöpft (das düstere Adagio aus Mahlers 10.), ist es in den Bewegungs- und streng formalen Raummustern ein lupenreines Modern-Dance-Stück. Ordentlich gemacht, nicht mehr.
Die Linien der Bewegungen in „Adagio“ erinnern an die Großen des amerikanischen modernen Tanzes des 20. Jahrhunderts. Und zu dem deutschen Beitrag dazu schlagen sie einen zarten Bogen durch Bausch und ihren künstlerischen Werdegang. Dennoch: Nah an Bauschs „Sacre“ und ihren Tanzopern – doch nicht von deren choreographischer Qualität und Bühnenwirksamkeit – und noch weit entfernt von ihren Tanztheater-Stücken, ist „Adagio“ heute nur deshalb von Belang, weil es ein Werk Bauschs aus jener Zeit ist, als sie noch nicht die war, als die sie berühmt werden sollte. Der Wert seiner Rekonstruktion liegt damit vor allem in der Erinnerungs- und Übertragungsarbeit, die Josephine Ann Endicott als an der Urinszenierung beteiligte Tänzerin dafür leistete, und im Zugang eines „neuen“ Titels in das schmale spielbare Werk Bauschs, auf das man bei der Pina Bausch Foundation in Wuppertal eine Zukunft aus umbautem Raum (samt Archiv, Studios, Büros und öffentlich nutzbaren Flächen) und Lizenzrechten aufbauen zu können hofft.
Ensemble in „The Times Are Racing“
Dagegen steht die Frage, wieviel Zukunft in Demis Volpis choreographischem Können steckt, noch an einer ganz anderen Stelle ihrer Beantwortung. Seine erste Hamburger Uraufführung, ein abendfüllendes Werk nach Hesses „Demian“, steht erst im Juli kommenden Jahres an. In seinem ersten Hamburger Programm stellte er sich unterdessen mit einer seiner letzten Düsseldorf-Duisburger Arbeiten vom April 2023 vor.
Der Titel von „The thing with feathers“ bezieht sich auf das Gedicht „Hope is the thing with feathers“ der Amerikanerin Emily Dickinson vom Beginn der 1860er Jahre. „Hoffnung“ aber mag so gar nicht passen zu dem, was man hört, nämlich Strauss‘ von Trauer und Verlust durchwebten „Metamorphosen“, und nicht zu dem, was man sieht: Eine schwarze Bühne, aufdringlich bunt zusammengewürfelte Alltagsklamotten der Tänzerinnen und Tänzer und eine auch auf Alltagsbewegungen fußende Choreographie, in die sich einen seltsam unpassenden Moment lang eine auf Spitze gestellte Tänzerin mit offenem Haar und Flatterkleid verirrt.
Im Programmheft liest man dann, dass Volpi, ausgehend von der Musik, die Absicht hatte, ein Stück über das Nichts zu schaffen, aber während der Proben das Tanzen selbst Hoffnung gebar und so den Gehalt und Fokus der choreographischen Arbeit veränderte. Das ist schön und plausibel (und mit bemerkens- wie dankenswerter Offenheit) beschrieben – rettet jedoch das Werk nicht davor, merkwürdig unbestimmt im Irgendwo, Irgendwie und Vielleicht zu schweben.
Madoka Sugai, Alexandr Trusch, Ida Praetorius, Matias Oberlin in „Variations Fot Two Couples“
Volpis erstes Hamburger Programm komplettieren ein Werk von Bauschs Zeitgenosse Hans van Manen (geboren 1932, Bausch: 1940) und eines von Volpis Zeitgenosse Justin Peck (geboren 1987, Volpi: 1985). Wenn auch nicht in Stil und Form, so waren van Manens Arbeiten der späten sechziger Jahre in Haltung und Aussage denen des deutschen Tanztheaters doch durchaus nahe. Hier aber ist er mit einem Werk aus dem Jahr 2012 (als Bauschs Tod schon drei Jahre zurücklag) vertreten, nämlich mit „Variations for Two Couples“ zu einer Collage vier kurzer Musikstücke von Britten bis Piazzolla, das so (neo-)klassisch und jung zugleich daherkommt, wie es längst van Manen-typisch geworden ist: Die Raummuster streng und einfach, die Bewegungen auf das Nötigste reduziert und abstrahiert, dabei strahlend klar und präzise. Und Justin Pecks „The Times Are Racing“ von 2017 macht den Rausschmeißer des Abends: Ein Turnschuhballett zu eingespielter elektronischer Musik von Dan Deacon, mit Clubflair und treibend sich steigerndem Rhythmus, das wie ein Street-Dance-Battle beginnt, aber natürlich nicht nur von Solistinnen und Solisten bestritten wird, sondern von in Zahl und Zusammensetzung rasch wechselnden Formationen, und das zwar nicht in seiner Bewegungssprache, aber mit seiner Divertissement-Anlage und seinen Unisono-Sequenzen seiner künstlerischen Heimat – bei Balanchine und Robbins und dem New York City Ballet – Referenz erweist.
Ein buntes Programm also zu Beginn der Nach-Neumeier-Zeit in Hamburg, der erste Schritt auf einem Weg, dessen Richtung bislang noch mehr Ahnung als Gewissheit ist. Gut indes, dass in Hamburg alle, nicht nur die künstlerisch Verantwortlichen, einen gemeinsamen Plan zu haben scheinen unter der Überschrift „Vergangenheit plus Gegenwart gleich Zukunft“. Der Plan könnte aufgehen.
PS: Unbedingt besser beaufsichtigen sollten sie in Hamburg allerdings die hauseigene Künstliche Intelligenz. Denn die scheint sich in Gestalt des Rechtschreibprogramms die eine oder andere Freiheit herauszunehmen. Die schönste lässt immerhin schmunzeln: Ein Einführungstext zu dem hier besprochenen Programm kündigt für das van Manen-Stück Musik von Astor Pianola an…
Hamburg Ballett: „The Times Are Racing“, vierteiliger Abend mit Werken von Pina Bausch, Hans van Manen, Demis Volpi und Justin Peck. Premiere am 28. September 2024, Staatsoper Hamburg. Gesehene Vorstellung: 29. September 2024. Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Musikalische Leitung: Vitali Alekseenok. Musik zu „The Times Are Racing“ vom Tonband. Vorstellungen bis 27. Oktober 2024 sowie am 17. Juli 2025.