In Johanna Richters neuem Tanztheaterstück „see the music – and dance!“ erfüllt sich, was der Titel verspricht: ein gelebtes Experiment.
von Vesna MLAKAR
Stille wird oft unterschätzt. Nicht so in Johanna Richters neuer Produktion „see the music – and dance!“. Immer wieder begegnet man dieser – sei es, bevor der erste Ton einer Komposition erklingt oder tänzerische Bewegtheit als weiteres Element im Raum hinzukommt. Stille mutiert zum Takt- und Impulsgeber, wenn alle Mitwirkenden nach innerer Unruhe, von einem imaginären Regenschauer überrascht oder nach körperlich ausgelebter Expressivität wiederholt zu ihr und einer damit verbundenen Reglosigkeit zurückfinden. Der Zuschauer hingegen wird abrupt aus dem Alltagslärm gerissen und in einem Moment des Innehaltens spielerisch aufgefordert, dem Herzschlag zu lauschen – jenem Sound, den wir alle stets mit uns tragen.
„This is the sound of silence“ ist auch Conrad Ahrens՚ erster Satz an diesem Abend im Münchner Schwere Reiter. Als genuiner Schauspieler trägt er zu Beginn eine Art Prolog vor. Darin geht es – in perfektem Englisch und als Projektion mitlesbar – um Pythagoras und die mathematisch-theoretische Komponente in der Musik. Hinzu kommt eine mittelalterliche Legende, laut derer zwei auf Wolken sitzende Engel herab zu den Menschen geblickt haben sollen. Durch einen Schubs geraten diese und eine der Wolken ins Wanken: Ein Ton entsteht, der zur Erde herabsinkt.
Fotos: © Mehmet Vanli

Conrad Ahrens՚ Arme und Körper unterstreichen gestisch, was er stimmlich so märchenerzählerhaft-geheimnisvoll ins Mikrofon spricht. Es sind gut gewählte Anfangsworte für ein Tanztheaterstück, das den Rest des Abends ohne verbalen Ballast auskommt. Bald folgt ein sinnlicher Eindruck dem anderen. Tanz und Klang fusionieren – und das handwerklich bestens strukturiert über drei unterschiedliche Musikstücke hinweg. Durch kleine, unaufdringliche Szenen, fast beiläufigen Begegnungen zwischen zwei, drei oder vier Interpreten auf der Bühne wird auf völlig ungezwungene Weise ein persönliches Gedankenkino in den Köpfen der Zuschauer in Gang gesetzt.
Sich langsam auf bloßen Füßen vorantastend übernimmt eine Tänzerin Ahrens՚ Platz in der Bühnenmitte. Suchend blickt sie um sich. Ihre Haltung bleibt die einer Wartenden, deren Körper sich in tastender Zurückhaltung übt, bis der Pianist am Flügel Arvo Pärts maximal ruhiges Adagio „Spiegel im Spiegel“ zu spielen beginnt. Schon John Neumeier hat dieses Stück in seinem „Othello“-Ballett für das hingebungsvolle erste Liebesduett zwischen Desdemona und der Titelfigur verwendet. Bei Richter stößt der erste Ton nun eine motorische Entdeckungsreise sondergleichen an.
Im Hintergrund schält sich ein Tänzer aus dem Halbdunkel an der Wand. Auf allen Vieren arbeitet er sich vor und nimmt allmählich Kontakt zu seiner Partnerin auf. Wenig später verbinden sich Erica D՚Amico und Chris-Pascal Englund-Braun zu einem außergewöhnlichen Duett, das sie in schützender Achtsamkeit für das Gegenüber immer enger aneinander schweißt. Es ist ein sehr eckig choreografierter Pas de deux mit verschiedenen Hebungen. Zugleich fließt dieses erste Duo unglaublich schön dahin. Da muss man einfach an Engel denken, die über ein ihnen noch unbekanntes Terrain mit Bergen und Abgründen hinwegtanzen.
Beide Interpreten scheinen oft gar nicht so recht zu wissen, wie ihnen geschieht. Bewegt werden sie mehr durch die sie berührenden Schwingungen der Musik, als dass sie selbst Gas geben wollen. Gut so, denn genau das passiert dann zum Schluss. Da legen sich die beiden Musiker zu Steve Reichs „Six pianos“ noch einmal – und richtig lange – voll ins Zeug. Der ganze Saal vibriert unter ihren Beats und den sich überlagernden Patterns.

Chris-Pascal Englund-Braun beginnt zu zucken. Seine Glieder schlagen in alle Richtungen aus. Seine Kollegen versuchen, ihn aus dem Lichtrechteck zu ziehen. Vergeblich. Sein Körper nähert sich der Ekstase, und bald können auch Conrad Ahrens, Erica D՚Amico und Amie Georgson Jammeh nicht mehr stillhalten. Solistisch im Wechsel reißen sie das Publikum mit. Gebündelt im Quartett mäandern sie mal zum Pianisten, mal zu dessen – heftig den Unterarm auf und ab schwenkendem – Kollegen. Toll anzusehen ist zudem, wie letzterer plötzlich selbst mit den Schaltern seiner Drumm-Maschine ein Duett aufführt – dermaßen großartig, dass man kurz alles umher vergisst.
Was Johanna Richter hier auf die Beine gestellt hat, ist ein sich subtil steigerndes und regelrechtes Wunder an Zusammenklang. Dabei lässt sie weit mehr als nur den Live-Sound aus virtuosem Tastenspiel und auf der Bühne produzierter vielschichtiger elektronischer Musik miteinander verschmelzen. Richters Tanztheaterstück entwickelt sich erst so richtig aus diesem musikalischen Fundament, für das Zoran Imširovic am Klavier und Conrad Hornung als multidisziplinärer Klangkünstler verantwortlich zeichnen.
Auch wenn es Imširovics und Hornungs Reise durch die Klangwelten von Arvo Pärt über John Cage („in a landscape“) bis Steve Reich schon zuvor rein akustisch gegeben hat, reicht Richters Adaption viel weiter. „see the music – and dance!“ will auch bewusst Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen in ein – so der Untertitel – „gelebtes Experiment“ einbinden. Hinter den Zuschauerrängen am Regiepult sind Behälter mit Erde und Wasser aufgestellt. Eine Live-Kamera überträgt die Visualisierung der beat-bewegten Oberflächen auf die Bühnenrückwand. Was unsere Ohren zu hören bekommen, wird somit auch für das Auge erfahrbar gemacht. Johanna Richters „see the music – and dance!“ strengt nicht an. Im Gegenteil: Dabei zu sein, bereitet einfach Freude.