"Faust" Choreografie von Edward Clug. Alle Fotos von Ida Zenna
Kritiken

„Faust – Ballett“ von Edward Clug in Leipzig

Sie tanzen einfach teuflisch gut, die Tänzerinnen und Tänzer des Leipziger Balletts und diese Energie kommt ganz offensichtlich auch der Deutschen Erstaufführung des Balletts „Faust“ von Edward Clug, vier Jahre nach der Uraufführung in Zürich, am Abend der Premiere im Leipziger Opernhaus bestens zugute.
So war es eine wahrhaft gute Entscheidung des Leipziger Ballettdirektors Mario Schröder diese 2018 beim Ballett in Zürich uraufgeführte Choreografie des international gefragten und hoch geschätzten Ballettdirektors des Slowenischen Nationalballetts in Maribor nach Leipzig zu holen. „Faust“ in Leipzig, das geht zusammen, da geht es auch hoch her, etwa beim teuflischen Gelage in Auerbachs Keller. Und natürlich wird da auch getanzt.
Das wusste schon Heinrich Heine, für den Goethes Dichtung, die er über die Maßen schätzte, „wie ein Ballett“, wirkte. Und damit nicht genug, Heine verfasste selbst ein Libretto für ein Faust-Ballett: „Der Doktor Faust“. Zur Aufführung kam es nicht, noch nicht, es war 1847 geschrieben worden für einen englischen Theaterdirektor, jedoch fand sich kein Komponist.

Gut 80 Jahre später jedoch hielt sich der tschechische Komponist František Škvor mit seiner Ballettkomposition an Heines Vorgabe. Über Aufführungen ließen sich keine Informationen finden.
Aber dann, am 6. Juni 1948, gibt es im Münchner Prinzregententheater die Uraufführung eines Faust-Balletts nach Heinrich Heines Vorlage, strak verändert zwar, beim Ballett der Bayerischen Staatsoper. Der Komponist ist Werner Egk, sein Ballett heißt „Abraxas“. Aber nach nur wenigen Aufführungen verschwindet das Ballett wieder, zu unsittlich befand man damals in Bayern.

In Hamburg, ein Jahr später und auch in Westberlin sieht man das anders und damalige Stars wie Lieselotte Köster und Jockel Stahl in Westberlin werden gefeiert. Und bald feiert dieses Faust-Ballett auch in der DDR große Erfolge: 1957 in Weimar, in der Choreografie von Emmy Köhler-Richter. Im gleichen Jahr bringt Tom Schilling seine Choreografie mit dem Ballett der Dresdner Staatsoper heraus, Karl-Heinz Rosemann und Edith Löffler, ohnehin Publikumslieblinge, sind die Stars. Mit dieser Choreografie startet Schilling dann auch zehn Jahre später in Berlin seinen Durchbruch beim Tanztheater der Komischen Oper. Sein Star war hier Hannelore Bay als Margarethe.  Wichtig ist aber auch daran zu erinnern, wie Schilling wieder ganz im Sinne Heines das Finale gestaltete. Faust stirbt schuldig, Margarethe unschuldig, das Volk erwacht in der Erkenntnis, sich allzu willfährig einer Verblendung hingegeben zu haben, die eben ihre Oper fordern müsse.

Fotos von Ida Zenna

Aber zurück nach Leipzig, wo ja ganz aktuell das Faust-Ballett von Edward Clug begeistert.
Der Jubel war enorm, als 1962 im neu erbauten Opernhaus, mit dem Faust-Ballett „Abraxas“ von Werner Egk in der Choreografie von Emmy Köhler-Richter sofort der Tanz hier seinen Platz behaupten konnte.
Norbert Thiel war der Faust, Ursula Cain die Archiposa und Anita Hütter die Bellastriga.
Und wenn der Leipziger Faust-Ballett-Blick noch weiter zurück geht, dann ist auf jeden Fall sicher, auch wenn es dazu kaum weitere Informationen gibt, dass hier, wie auch in Dresden, ein „Faust-Ballett“ von der Deutschen Schauspieler-Gesellschaft, schon 1808 aufgeführt wurde. Jules Perrots Faust-Erfolg von 1848 mit Fanny Elßler als Margarethe und Perrot selbst als Mephisto fand nicht den Weg hierher.
Also, sind nun mit der aktuellen Premiere in Sachen Ballett und „Faust“ dann aller guten Dinge drei in Leipzig ?
Gemessen am Jubel zur Premiere für die Fassung von Edward Clug auf jeden Fall. Und das hat seinen Grund.
Diese Bilder vergisst man nicht. Da sind diese gefallenen Engel zu Beginn, der alte Faust, der die Stapel der Bücher, also sein lebloses Wissen, in einem Rollstuhl vor sich her schiebt, bald wird er selbst darin sitzen. Die Ansammlung seines Wissens nützt ihm nichts. Dass dem wunderbaren Tänzer Carl von Godtsenhoven noch ein Wandel bevorstehen wird lässt sich im Unglück seiner Bewegungen der Vergeblichkeit erahnen.
Da sind die saufenden, johlenden Studentenbübchen, die sich ihre Faust-Bücher signieren lassen, ob sie sie lesen, fraglich. Und da ist ganz unauffällig Samantha Vottari als Gretchen, sie beseitigt den Müll und wird somit von den kurzhosigen Intelligenzsäufern natürlich übersehen.

Nicht auf Anhieb gelingt es Marcos Vinicius Da Silva als Mephisto, in sich wandelnder Gestalt, aber immer mit den roten Schuhen, sich dem Faust zu nähern, aber aus den Augen seines satanischen Blickes lässt er ihn nicht. Da Silva, wahrhaft ein Tänzer voller Energie, die ihn zum Bersten bringen könnte, wäre er eben nicht ein Teufel in der Art eines rücksichtslosen Menschen, der sich eben satanischer Praktiken zu bedienen weiß. Und geschickt ist er zudem. Um dem Faust auch die Erotik der Jugendlichkeit ganz sinnlich schmackhaft zu machen präsentiert er sich ihm schon mal bei tadellosem, freiem Oberkörper und hilft ihm die Alpträume der Bildschirm-Geister mit ihren Messern, die ihn als nun schon fast sichtbar jungen Mann im Rollstuhl bedrohen, zu vertreiben.

Fausts Suche nach dem Geheimnis des Seins, vorerst verirrt in grauer Theorie, führt ihn in eine Art Zelle, umgeben von milchigem Glas, daher auch durchsichtig. Aber erst mit einem Trick hellt sich da etwas auf, wen es dem Mephisto gelingt, sich hier Zutritt zu verschaffen. Es ist ein Spiel. Der Teufel ist schlau. Wer könnte dem kleinen Schmusehündchen widerstehen, welches er dem einsamen alten Mann in den Arm legt. Man sieht was man will, da hilft dem Doktor Faust auch alle Bücherweisheit nichts, und wie so üblich im Theater, wir wissen mehr. Der schwarze Pudel ist ein Luftballon, der Satan hat  ihn zurecht geknotet. Des Pudels Kern ist Luft.

Und weiter geht es, ganz im Sinne Goethes, nur nicht in verbalen Versen, eher immer wieder in tänzerischer Rasanz. Faust hat das Bild der jungen Frau im Kopf, ob auch im Herzen, das wird sich zeigen. Dass er für sie zu alt ist, kein Problem mit einem Manager wie dem Mephisto an der Seite. Nichts ohne Vertrag. Und was ist denn eine Seele wert gegen glatte Haut und teuflisch gutem Muskelaufbau. Der Faust wird jung, von außen jedenfalls, die Reise kann weiter gehen, mit Gretchen im Arm. Verzückt träumt sie dann in ihrem Zimmer. Mit Schmuck fängt man Mädchen, Gretchen aber nicht, vorerst jedenfalls. Die Nachbarin mit dem schönen Namen Marthe Schwerdtlein, (Esther Ferrini) denkt praktisch und lässt sich von dem taffen Typen, der eben so teuflisch gut tanzen kann, einwickeln und das im tödlichen Sinne des Wortes. Da wohnen dann nicht nur die berühmten zwei Seelen in einer Brust, da tanzen auch schon mal gleich zwei Typen in einer Kluft.

Faust und Gretchen sind nun von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt,. wer’s nicht erkennt, dem wird’s besungen, von Marlene Dietrich, als Blauer Engel, 1930. Da waren die Goldenen Zwanziger schon vorbei, die braunen auf dem Vormarsch, und die Teufel auch schon ganz schön am Werk, im Land der Dichter und Denker, wo man sich ja Goethe und Faust gerne auf die Fahnen schrieb, nur dass die damals ganz und gar nicht blau waren.

Aber jetzt halten sie ihre Hände. Ein Paar zu Verlieben. Wie in der Kulisse eines Films öffnet sich der dunkle Horizont des genialen Bühnenbildes von Marko Japelj mit den Videos von Tienie Burkhalter im Licht von Martin Gebhardt: Ein goldenes Kornfeld, darüber blauer Himmel, funkelnde Sterne…vielleicht auch ein Bett im Kornfeld. Und schon beweist sich wieder die so hinter- wie tiefgründige, choreografische Kunst des Edward Clug, das goldene Kornfeld wird zum Schlachtfeld. Krieger kehren heim, ob sie auch auf Liebe eingestellt sind ? Einer der Krieger ist Gretchens Bruder Valentin (Marcelino Libao). Nach allem was dieser junge Mann erlebt hat sieht er, was sich hier abspielt, in wessen Hände seine Schwester gefallen ist, er fordert diesen Faust heraus, und er fällt selbst, denn der Gelehrte denkt, und Satan lenkt, in diesem Fall das Schwert.
Und hier gelingt eine von vielen so grandiosen Szenen, bei denen man nicht weiß, wo endet der Spaß, wo beginnt die Ironie, wo erwischt uns selbst die Lust am satanischen Spiel. Denn diese Schlachtszene geschieht in der alltäglichen Ästhetik unaufhörlich flimmernder Videospiele an den Bildschirmen, deren Mordsgeschehen durch unsere Hände gelenkt wird. Je schneller die Daumen um so höher die Zahl der Leichen, online, versteht such.

Und wenn uns die Einsicht zu nahe kommt, dann hat der Satan die Mittel der Ablenkung, Gretchen ertränkt ihr Kind. Der Tod ist ihr sicher. Sie hat ja aus seiner Sicht auch ihren Zweck erfüllt. Also ab, mit Faust, auf ins Getümmel, wer wird denn diese Geister, die man rief, oder sich rufen lässt, wieder los der große Show der Fratzen des Kostümkünstlers Leo Kulaš. Da steigert sich der Tanz noch einmal bis hin zum Übermut, Wegtanzen was Angst macht! Augen zu und auf ins Spiel mit dem Teufel, wird schon gut gehen. Der Tanz macht es möglich, immer wieder Grenzen zu durchbrechen, Geschichten, Erinnerungen, Ängste aber auch Hoffnungen hereinbrechen zu lassen. Und immer wieder auch, so absurd das erscheinen mag, mit den Augen zu zwinkern, sich Weisheit und Witz vermischen zu lassen, ja, sogar leicht zu sein, aber nicht ohne Tiefsinn, so empfand Thomas Mann Goethes Dichtung. Und daher, so der starke Eindruck nach zwei Stunden des faustischen Tanzes in Leipzig, bezieht auch der Choreograf Edward Clug seine Kraft, seie Lust, seine Zuneigung zu allen seinen Menschen, die der Worte nicht bedürfen, aber des Tanzes, ebene jener Sprache, die mehr auszudrücken vermag als allzu viele Worte. Von „stummen Zeilen“ spricht Edward Clug.
Für Faust ist klar, Flucht ist die Lösung, für ihn, für Gretchen, die Kindsmörderin, aus dem Kerker. Der Teufel wird helfen. Denkt er. Gretchen denkt weiter. Sie flieht nicht. Zwischen Faust und David Iglesias Gonzalez als Gestalt des vergebenden Jesus bleibt eine Wand, immerhin bei aller Unschärfe doch durchsichtig, ob durchlässig, keine Antwort. Der Tanz geht weiter.
Das geht natürlich nicht ohne Musik. Da hat man in Leipzig großes Glück, denn die mitunter doch recht schlichten Filmsoundpassagen von Milko Lazar erfahren durch das Spiel der Musikerinnen und Musiker des Gewandhausorchesters und der der Leitung von Matthias Foremny entsprechende Klangqualitäten.

So gilt am Ende der euphorische Jubel vor allem den Tänzerinnen und Tänzern. Vor allem wohl deshalb, weil sie diese bislang hier so noch nicht zu erlebende Ästhetik des Tanzes, wie sie der Choreograf Edward Clug in überzeugender Individualität entwickelt hat, so herrlich authentisch anzunehmen vermögen. Ja, es geht mitunter teuflisch zur Sache, aber da ist sie auch immer wieder bei dieser Kompanie, die große Kraft berührender Sensibilität.

Nicht nur drei, vier „Fäuste“ beim Ballett in Leipzig

Kleiner Nachtrag zur Rezension der Premiere des Balletts „Faust“ von Edward Clug in Leipzig

Es wäre ja so schön gewesen, macht sich doch gut, „aller guten Dinge sind drei“, Faust als Ballett in Leipzig: erstmals 1803, dann 1962 und nun genau 60 Jahre später, ein solcher Erfolg, dass bereits eine Zusatzvorstellung angesetzt werden musste.
Aber, es gab noch eine „Faust“ – Choreografie, wieder nach der Vorlage des Librettos von Heinrich Heine, wieder mit der Musik von Werner Egk, nur jetzt in der Choreografie von Enno Markwart, am Leipziger Theater, dem Träger des Karl-Marx-Ordens, im Opernhaus am Karl-Marx-Platz, am 25. Juni 1989, in neuer Inszenierung. So dem Theaterzettel zu entnehmen, der mir erst jetzt wieder zukam.
Und auf diesem Besetzungszettel findet sich auch – daher ist dieser Nachtrag auch angebracht, der Name des jetzigen Ballettdirektors und Chefchoreografen, dessen Initiative wir ja den aktuellen „Faust“ – Erfolg verdanken: Mario Schröder. Er war damals in der ersten Premiere, der Tiger. Leider kein Bildmaterial verfügbar.

Boris Gruhl