Eine große Primaballerina aktiv in hohem Alter: „Oh, ich habe so gerne Schokolade gegessen, viel zu viel.“
Yoga-Ballett mit Marcia Haydée.
Was macht eine Primaballerina, wenn sie nicht mehr auf den großen Tanzbühnen der Welt steht bzw. sich dort tänzerisch bewegt? Sie unterrichtet weiter und bildet aus. Und sie entwickelt etwas Neues: Dies tat Marcia Haydée, die aus Brasilien stammende frühere erste Tänzerin des Stuttgarter Balletts, mit der die schwäbische Kompanie buchstäblich aus dem Dornröschenschlag erwachte und weltweite Berühmtheit erlangte. Zunächst experimentierte sie mit dem Theater, leitete einige Jahre lang eine Kompanie in Santiago de Chile, bereiste die Atacama-Wüste, bevor sie etwas ganz Neues, Eigenes entwickelte: Yoga-Ballett, eine Kombination aus Yoga und Ballett, geeignet für Tänzer und Nicht-Tänzer. Den Anstoß dazu verdankt sie zum einen ihrem Alter, zum anderen ihrem Mann, dem Yoga-Lehrer Günter Schöberl.
Ruhig, ein wenig schlurfend, betrat das ehemalige junge „hässliche Entlein“, das zum „strahlenden Schwan“ mutierte – dank des ehemaligen Direktors des Stuttgarter Balletts, John Cranko – den Gymnastiksaal im Sportinstitut Tübingen, um dort einen Intensiv-Kurs in „Yoga-Ballett“ durchzuführen, für Tänzer und Nichttänzer aller Altersgruppen. „Kommen Sie, wir machen eine Vorstellungsrunde, bevor es losgeht. Sie können mich Siezen oder Duzen, wie Sie wollen. Ich bin ein ganz unkomplizierter Mensch!“
Die ehemalige Primaballerina des Stuttgarter Balletts gab sich seit Februar 2014 mehrmals die Ehre: Sie folgte einer Einladung der Sport- und Tanzpädagogin, Yogalehrerin und Leiterin des „Akasha Tanzensembles“, Inge Seefluth vom Hochschulsport Tübingen, mit der sie eine langjährige Bekanntschaft pflegt, eine Intensiv-Fortbildung in Yoga-Ballett durchzuführen. Dies ist eine Methode, die die Atem- und Entspannungstechniken des sich auf Körperübungen konzentrierenden Hatha-Yoga mit einigen Chi-Gong-Elementen und sanften Ballettbewegungen zu choreographischer Arbeit vereint. Das Ergebnis ist ein Tanz: Yoga-Ballett.
Haydée hat diese Methode selbst entwickelt, gemeinsam mit ihrem Mann Günter Schöberl; ihr gebührt und gehört das Urheberrecht dafür. Vom Yoga früh fasziniert, hat sie ihn ab dem 19. Lebensjahr selbst praktiziert. Ausschlaggebend für ihr Interesse daran war die Beobachtung von Tänzerinnen. Sie sah viele technisch brillante Künstlerinnen auf der Bühne, aber eine erschien ihr anders: Rosella Hightower, eine Tänzerin und Choreographin des Balletts in Cannes und Monte Carlo. Diese tanzte mit einer ungeheuren Leichtigkeit, man merkte ihr keine Erschöpfung an. Die Frage, woran dies lag, beantwortete Hightower selbst: Sie praktizierte Yoga. Dadurch ging sie entlastender mit der Körperatmung um, was dazu führte, dass sie mehr Energie auftankte, als die anderen Tänzerinnen und langsamer ermüdete. Dies offenbarte sich in der Leichtigkeit, mit der sie auf der Bühne tanzte. Von Rosella Hightower inspiriert, begann Marcia Haydée selbst mit 19 Jahren tägliches Hatha-Yoga-Training und spürte die Veränderung im Umgang mit der tänzerischen Körperarbeit am eigenen Leib. Bis ins hohe Alter tanzte und choreographierte sie selbst, in den letzten Jahren mit stärkerer Konzentration auf theatralisches Tanztheater, dem sie sich ab 1994, gemeinsam mit dem Brasilianer Ismael Ivo, stärker widmete, den sie einst persönlich nach Stuttgart holte (Ivo gründete, zusammen mit Rio Rutzinger und einigen Anderen, das ImPulsTanz-Festival Wien vor dreißig Jahren, der inzwischen erfolgreichsten und innovativsten Ausbildungsstätte für Tanz europaweit, wenn nicht gar weltweit). Haydée lernte, ganz ruhige, beinahe statisch wirkende Bewegungsarbeit auf der Bühne – und fand es faszinierend. Ihrer Meinung nach gehört dies zum Schwierigsten, das sie je gemacht hat. Besonders bewundert sie das japanische Nō-Theater; sie habe vor einigen Jahren ein Stück gesehen, in dem ein Teilnehmer einen Raum so langsam statisch durchquert, dass es insgesamt etwa vierzig Minuten dafür braucht, von einem Ende zum anderen. Im letzten Jahrzehnt leitete sie einige Jahre lang die Kompanie in Santiago de Chile. Doch jetzt ist sie am liebsten zuhause, das heißt: Bei ihrem Mann auf der Schwäbischen Alb. Hier fand und findet sie Ruhe, die sie in Anbetracht ihres vollen Terminkalenders dringend benötigt. Auch wenn sie sich selbst weder Erschöpfung noch Ermüdung anmerken lässt, auch nicht am Ende eines Arbeitstages.
Der vollkommen ausgebuchte Workshop fand in der Zusammenarbeit mit ihrem Mann Günter Schöberl statt, der die Musik koordinierte. Haydée begann mit ruhigen Entspannungsübungen auf der Matte, ohne Musik. Dann folgte eine behutsame Aneinanderreihung der kleinen Entspannungssequenzen zu einer Kombination mit sanfter meditativer Musik im Hintergrund, die schließlich zu einer kleinen Choreographie zusammengesetzt wurde. Haydée korrigierte die Bewegungen der einzelnen Teilnehmerinnen, darunter auch eine muslimische Tänzerin (es gab keinen einzigen männlichen Teilnehmer), mit wachem Blick und klaren, ruhigen Anweisungen. Die „grande dame“ des Stuttgarter Balletts erklärte ruhig und verständlich. Mit kleinen Kontrollgängen zwischendurch korrigierte sie behutsam, mit den zartesten Händen und Fingern, die man sich vorstellen kann, rückte Hände zurecht, korrigierte die Wirbelsäulen- und Bein-Haltung, lobte eine gute Haltungsposition. Aber bei aller Sanftheit: Mit klarer, deutlicher Stimme; Haydée strahlt eine natürliche Autorität aus, unvorstellbar, dass jemand ihr nicht zuhören oder Folge leisten könnte.
Der Arbeitstag wurde von ihr beendet mit einem großen Kreis; dann forderte sie jede einzelne Teilnehmerin auf, zu der aufgelegten Samba-Musik individuell zu tanzen und aus dem Kreis herauszutreten. Haydée begann, intensiv zu wackeln und zu zittern, als stünde sie auf einem Wagen einer Samba-Schule in Rio de Janeiro, wo sie aufgewachsen ist – mit Musik. Ihrer glücklichen Kindheit und ihrer unbändigen Bewegungslust verdankt sie bis heute ihr Lebensgefühl; nicht alle Erlebnisse ihres Lebens waren unbeschwert. Sie erzählte, sie habe eine glückliche Kindheit gehabt, in einer tollen Familie, die ihr volle Rückendeckung gab. Mit drei Jahren begann sie den Spitzentanz – viel zu früh, wie sie sagt, ihre Füße sind dadurch kaputt gemacht worden. Man sollte nicht früher als mit acht, neun Jahren beginnen, auf Spitze zu tanzen, damit die Füße und ihre Knochen ausreichend Kraft entwickeln konnten, bevor sie einer solchen Belastung ausgesetzt werden; vielleicht auch später Das ist ihre Erkenntnis und Überzeugung, die sie heute offen vertritt. Aber: Sie habe keine Schmerzen. Marcia Haydée trägt immer Socken; darunter bilden sich die Formen ihrer verkrümmten Zehen deutlich ab. Ohne Musik und Tanz kann sie nicht leben: „Ich bin auf die Welt gekommen, um zu tanzen. Wenn ich Musik höre, fange ich sofort an, mich zu bewegen. Ich höre täglich Musik, ich brauche das zum Leben.“
Im anschließenden Gespräch über ihr Leben und ihre Arbeit als Tänzerin und Choreographin (sie hat etwa acht oder neun Stücke selbst bearbeitet) gibt sie kleine Geheimnisse preis: Als sie als Teenager nach London kam, um Klassisches Ballett zu lernen, nahm sie innerhalb kürzester Zeit viel an Gewicht zu, acht oder neun Kilo. Die Ernährung war einfach anders als zuhause in Brasilien, das englische Essen setzte mehr an. Und. „Oh, ich habe so viel Schokolade gegessen, viel zu viel.“ Als sie John Cranko kennen lernte, spielte das keine Rolle mehr. Er mochte die junge pummelige Brasilianerin und glaubte an sie. Er erkannte sofort ihr dramatisches Talent, ihre unglaublich starke Ausstrahlung. Diese hat sie bis heute behalten. Sie hat nach wie vor ein wunderschönes Gesicht, mit diesem tiefen, melancholischen Zug darin, mit ihrer immer gleichen Art, sich zu schminken: Dunkler Lidschatten, schwarze Tusche, rote Lippen. Immer noch trägt sie als eine ihrer Grundfarben gerne Schwarz, zumindest die Trainingshosen. Ihre Haut ist weiß wie Elfenbein, mit zarten Altersflecken, ihre Arme grazil und muskulös, ihre Hüften recht rundlich, ihr Hals lang und schlank. Sie sieht immer noch aus wie eine melancholische Julia, heute eben mit vielen, zarten, kleinen Altersfältchen, den nach wie vor kindlichen Bäckchen und einem zarten, melancholischen Zug um die Lippen, der auf das hindeutet, worüber sie nicht so gerne spricht: Die Verluste in ihrem Leben, das Davongehen von Menschen, die sie liebte und mit denen sie viel ihrer Arbeits- und Lebenszeit geteilt hat: John Cranko, Richard Cragun, ihr Bruder. Haydée weiß um die Probleme in Lateinamerika, sie kennt die sozialen Tanzprojekte aus Brasilien und Chile, wo Tanz Bestandteil der Sozialarbeit ist. John Cranko hat sie viel zu verdanken: „Alles, was ich bin, habe ich John Cranko zu verdanken. Er hat mich geformt und gebaut als Tänzerin. Er hat immer an mich geglaubt. Ich habe gemacht, was er sagte; er lag immer richtig.“ Ihr Mann, der Schwabe Günter Schöberl, hat Ruhe und Gleichgewicht, Ausgeglichenheit und Gelassenheit in ihr Leben gebracht: „Ich mag die Schwaben. Sie schützen mich.“ Mit ihrem hohen Alter hat sie nach wie vor ein unglaubliches Charisma und eine leicht kindliche Ausstrahlung, die durch ihren wachen, ein klein wenig traurigen, Blick und ihre runden Bäckchen unterstrichen wird. Ihre Empfehlungen und ihr Rat wird von Choreographen immer noch geschätzt: So hat sie eine der ersten Solistinnen für das Stuttgarter Ballett empfohlen, die talentierte Koreanerin Sue Jin Kang. Haydée hat die Erfahrung und den Blick für Können, Qualität und Talent. Das Erkennen von Begabung und Talent schätzt sie hoch ein; es war die Voraussetzung für die Karrieren von Rudolf Nurejew, der mit 18 Jahren erst zum Ballett kam, und für Rodrigo Guzman, der mit 20 mit dem Klassischen Ballet begann. Man kann sich keine Primaballerina und Diva vorstellen, die menschlicher und bodenständiger sein könnte als Marcia Haydée; sie ist die personifizierte Menschlichkeit. Dies ist nicht verwunderlich; als Tänzerin blieb ihr nichts Anderes übrig, als sich anzupassen, was durch die vielen Reisen auf Tourneen nötig ist. Man kann als Tänzerin nicht einfach sagen: „Oh, ich habe Schmerzen, es geht mir nicht gut, ich fühle mich nicht wohl. Nein, heute Abend muss ich auf der Bühne stehen und funktionieren. Ich muss tanzen, und ich muss gut sein! Das Publikum erwartet das von mir!“ Um dies zu verkraften und durchzustehen, habe ihr die Praxis des auf Körpertechniken konzentrierten Hatha-Yoga sehr geholfen. Und das Trinken von Wasser.
Diese von Haydée entwickelte Methode ist für Tänzer wie Nichttänzer und für alle Altersgruppen geeignet ist und wirkt dennoch sehr schön. Viele ältere Tänzer und Tänzerinnen bauen heute Yoga in ihren Alltag ein, um diesen zu entschleunigen und zu erleichtern. Es scheint insgesamt eine gute Wirkung zu haben.
Autorin: A. M. Harwazinski