„Shades of Blue and White“ beim Stuttgarter Ballett
von Angela Reinhardt
„La Bayadère“ und direkt danach Forsythe? In Stuttgart findet man das Motto für diesen ungewöhnlich zusammengestellten Ballettabend in den Farben, bei dem weißblauen Whopper rahmt die Farbe des Ballet blanc das typische Balanchine-Blau ein. Der hinreißend tanzreiche Abend präsentiert den Spitzenschuh in drei seiner grundlegenden Anwendungsarten: akademisch, neoklassisch und modern. Obwohl man in Stuttgart die Klassik hochhält, verwundert es kaum, dass die Truppe im modernen Teil des Abends am besten aussieht.
Denn dem Schattenakt aus „La Bayadère“, der 2018 zum Direktionsantritt von Tamas Detrich Premiere hatte, fehlt als grundlegende Zutat noch immer die Elegie, das Jenseitige. Natalia Makarovas herausgelöste Fassung des dritten Aktes bleibt ein virtuoses Divertissement und versucht in dieser Ausstattung (die sich stark von Pier Luigi Samaritanis Originalbühnenbild unterscheidet) gar nicht erst, die Weite des Himalaya zu suggerieren. Durch einen riesigen Baum wirkt die Bühne hoch statt weit, das Ganze sieht eher nach der Waldlichtung von „Giselle“ aus. Beim Mariinsky und in anderen Inszenierungen suggerieren Felsen und Wolken ein entrücktes Nirwana, hier verengen, obwohl man sie wahrlich nicht bräuchte, die Tempelbilder auf den Seitenkulissen noch zusätzlich das Blickfeld.
Angeführt von der traumverloren sicheren Elisa Ghisalberti gleiten die 24 Bayadèren ihre Schräge hernieder und stehen ganz wunderbar in ihren vertikalen und horizontalen Linien; einen Unterschied zu Wilis oder Schwänen aber sieht man kaum, kein Opiumtraum und kein Todeshauch entrückt die hypnotisch mäandernde Linie aus der reinen Geometrie in elysische Gefilde. Auch beim Solistenpaar fehlt die Chemie, weder sehnt sich der verzweifelte Solor nach der toten Geliebten, noch wirkt sie wie eine jenseitige Vision. Adhonay Soares da Silva, Stuttgarts Mann fürs Spektakuläre, dreht superbe verlangsamte Pirouetten, Elisa Badenes lässt in ihrer wirbelnden Schlussdiagonale den Hauch des Himmels wehen – aber das Paar, das in „Don Quixote“ so strahlend triumphierte, bleibt hier seltsam seelenlos.


In Solors Variation aus dem zweiten Akt, die Makarova zwischen die Variationen der drei Solo-Bayadèren einfügt, zeigt am nächsten Abend David Moore, nicht unbedingt der große Virtuose, sogar schönere Cabrioles als Soares und tanzt manches feiner, korrekter. Aber ach, es fehlt an fast allem, womit Stars wie Kimin Kim, Vladimir Shklyarov oder Vadim Muntagirov hier Furore machen: die Höhe der Sprünge, das Vom-Boden-Schnellen, das Verweilen in der Luft. Das ist viel zu brav für eine Kompanie von Weltrang; wie schade, dass Tamas Detrich, anders als sein Vorgänger Reid Anderson, bei den Besetzungen zu stark an der Hierarchie klebt. Warum für das vergleichsweise kurze Stück nicht einmal einen seiner hochfliegenden jungen Herren einsetzen, Matteo Miccini zum Beispiel oder den sprungstarken Adrian Oldenburger, der auch die entsprechende Größe für Mackenzie Brown hätte? Die neue Erste Solistin zeigt als Nikiya eine königliche Haltung, sie zelebriert die Schritte ernst und hingebungsvoll, auf dem besten Weg zu jener tiefen Melancholie, die den Schattenakt prägen sollte. Unter den Solo-Bayadèren überzeugen Daiana Ruiz mit ihrer ruhigen, starken Technik, die ebenso firme Aoi Sawano und, frisch von der Cranko-Schule, die junge Abigail Willson-Heisel, die mit ihren grazilen Linien bereits einen eigenen Stil erkennen lässt.
Erinnert sich noch jemand an „You made me a monster“, an „Decreation“, all die Installationen, Performances und Bewegungsstudien im Bockenheimer Depot in Frankfurt? Wie kehrte der allen enteilende Intellektuelle William Forsythe, der grüblerische Kontorsionen von rätselhaften Worten begleiten ließ, plötzlich zu einer verspielten Leichtigkeit zurück, ja sogar zum Spitzentanz? „Blake Works I“ ist wie geschaffen für eine neue, lockere Generation von Tänzern – in der Interpretation der Stuttgarter erscheint das Werk wie ein einziges glückliches Strahlen. In seiner Rückerinnerung ans klassische Ballett wirkt das 2016 in Paris uraufgeführte Stück fast wie ein „Dances at a Gathering“ für die Moderne; auch Jerome Robbins hatte damals viele andere Stile ausprobiert. 40 Jahre nach seiner Frankfurter Revolution muss Forsythe nichts mehr dekonstruieren, er muss das alte Ballett nicht mehr herausfordern, wie es die Generation um Sylvie Guillem und Laurent Hilaire damals so cool mit „In the Middle, Somewhat Elevated“ machte. Nachdem Forsythes Nachfolger den Visionär jahrzehntelang kopierten und an seiner einzigartigen Ästhetik herumschraubten, zeigt der Meister all den Epigonen, dass nur wenige von ihnen etwas wirklich Neues erfanden und zaubert fröhlich mit dem uralten Idiom.
Verglichen mit seinen „Ballet ballets“ wie „Vertiginous Thrill“ ist Forsythe nicht nur lockerer geworden, sondern sogar eloquenter als damals. Denn hier ist zu sieben Songs des britischen Barden James Blake alles drin – verlangsamte Drehungen, klassische Sprünge, elegante Posen, und mit den weichen, lyrischen Passagen, die vom französischen Stil beeinflusst scheinen, sogar etwas ganz Neues. Neben den gerundeten Armen aus der Klassik und den streng gestreckten aus der „Artifact“-Phase gibt es nun auch hängende Katzenpfötchen oder ein leichtfertiges Schütteln aus dem Handgelenk, ist das ein Hauch von Bob Fosse? Die Hüften sind nicht mehr streng gekippt, sondern sie wippen jazzig, wir sehen Zitate aus Kinderspielen und die frühere Strenge ist zu Ironie geworden. Übermütig spielt Forsythe mit der Virtuosität des klassischen Tanzes, fordert die Tänzer nie zum Protzen heraus, sondern trägt sie fröhlich durch Sprünge und Drehungen, lässt sie in Freundschaft zusammendriften und entschwinden: Genau wie damals trifft er den Geist der heutigen Jugend. Wenn eine Tänzerin auf die gesungenen Worte „how wonderful you are“ ihre gerundeten Arme anstaunt, mag man sogar Thomas Mannsche Ironie erahnen. Anders als in den frühen, in Stuttgart entstandenen „Love Songs“, wo die Frauen sich hart gegen den Sexismus der Männer behaupten mussten, lässt Elisa Badenes hier Jason Reilly nach einem verliebt-forschenden Duo einfach mal stehen – das Verhältnis der Geschlechter ist entspannt und vertraut.

Das Ensemble tanzt durchweg großartig, ob in der Premieren- oder der alternativen Besetzung. Flemming Puthenpurayil erobert in einem losgelösten Solo die Weite der Bühne, Mackenzie Brown swingt mit einem exquisiten Rhythmusgefühl zwischen Balanchine und Broadway, Rocio Aleman, Matteo Miccini, Henrik Erikson oder Clemens Fröhlich haben Spaß. Die Tänzer lieben das Stück und das Stück liebt seine Tänzer. Fraglos wird „Blake Works I“ zu einem Klassiker der Moderne werden, die großen Kompanien reißen sich um die Rechte.

Die „Siebte Sinfonie“ von Uwe Scholz gehört zu den Signaturstücken, die aus Stuttgart in die Welt hinausgegangen sind, zuletzt war sie beim Birmingham Royal Ballet zu sehen, aktuell bei Les Grands Ballets Canadiens. Von George Balanchines Neoklassik unterscheidet sich Scholz, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 20. Mal jährt, durch eine eher kleinteilige Architektur – zu Beethovens Musik zentriert er seine Strukturen nicht auf die Mittelachse, sondern kombiniert immer wieder zwei Schauplätze, bevor sich die Gruppe wieder im Unisono zusammenfindet. Zwischen abstrakten Keilformationen, Kreisen oder Linien blitzen Vignetten der Freundschaft auf – Freundinnenpaare, die sich unterhaken und zu einer langen Kette werden, oder die zwei Joker, die erst einzeln, dann gemeinsam über die Bühne jagen (Matteo Miccini und Dorian Plasse, am nächsten Tag Edoardo Sartori und Plasse, allesamt mit leichten, feinen Sprüngen). Mit vielen Arabesquen stellt Scholz die Schönheit der Ballerinen heraus, wie bei Balanchine bleiben die Männer eher Partner. Wolfgang Stollwitzer war damals 1991 mit Beatriz de Almeida die Premierenbesetzung, heute ist er wieder als Ballettmeister in Stuttgart und war sicher an der Einstudierung beteiligt.

Man freute sich über Miriam Kacerova, die nach ihrer Schwangerschaft auf die Bühne zurückgekehrt ist, genau wie Gabriel Figueredo nach seiner Verletzung in „Blake Works I“. Und man lächelte über Vincent Travnicek, der im dritten Satz so lustig seine Augenbrauen tanzen lässt, wenn er diverse Mädchen einfängt. Hinter dem Hauptpaar Agnes Su und Jason Reilly, das am Premierentag noch nicht perfekt aufeinander abgestimmt war, stürzte sich eine neue, junge Generation in das rasante Stück, das an den ersten beiden Abenden noch rasanter klang als gewohnt, weil Dirigent Mikhail Agrest geradezu durch Beethovens Musik hetzte, vor allem im vierten Satz. Mit Elisa Badenes und Martí Paixà war die zweite Besetzung dann bestens für das irre Tempo präpariert und hielt souverän mit. Die Spanierin passt mit ihrer federleichten Geschmeidigkeit ideal in die Rolle, Paixà ist ein großartiger, aufmerksamer Partner und beide strahlen vor Charme. Dennoch sieht es merkwürdig aus, wenn sich das Stück zum Wettbewerb zwischen Tänzern und Orchester entspinnt, wo eigentlich ein Miteinander sein sollte. Agrest, der bekanntlich juristisch gegen seine fristlose Entlassung als Musikdirektor des Balletts vorging und nun doch wieder am Pult steht, hatte das Tempo nicht nur hier, sondern bereits in „Initialen R.B.M.E.“ oder im Pas de trois in „Romeo und Julia“ viel zu stark angezogen und legt augenscheinlich wenig Wert auf tänzerfreundliches Dirigieren. Aber auch Beethoven steht diese Hektik nicht.