Von Renate Baumiller-Guggenberger
Marco Goecke und Goyo Montero erforschen in ihren Choreografien die düstere Lage der Gegenwart, die sie in und zwischen den Notenzeilen von Strawinskys „Scènes de ballet“ und seinem „Feuervogel“ (FIREBIRD) entdecken
Alisa Uzunova, Jay Ariës in „Firebird“, Ch. Goyo Montero © Jesús Vallinas
Dass gerade im Bühnentanz die Würze in der Kürze liegt, zeigte Nürnbergs langjähriger Ballettchef Goyo Montero jetzt ein weiteres Mal in seinem aktuellen Doppelabend „Strawinsky: Goecke/Montero“. Es ist der Auftakt zu seiner Abschieds-Spielzeit. Er wechselt in die Leitungsposition nach Hannover und hat seinen dortigen Vorgänger Marco Goecke nach Nürnberg eingeladen, um sich gemeinsam mit ihm zwei Meisterwerken von Igor Strawinsky zu widmen.
In 90 Minuten inklusive einer Pause ist auf der großen Bühne schon wieder alles vorbei und das Publikum zutiefst beeindruckt bis hellauf begeistert. Die Ovationen gelten zurecht nicht allein der Leistung der 25 Tänzer*innen, die sich in Goeckes uraufgeführtem Werk sichtlich wohler und besser geführt fühlen als in Monteros „Firebird“, das 2023 schon als Auftragswerk für „Les Ballets de Monte-Carlo“ entstand, sondern auch der vollendeten Live-Begleitung durch die Staatsphilharmonie Nürnberg unter Leitung von GMD Roland Böer. In beiden Stücken setzt das Orchester mit rhythmischer Brillanz und hörbar klanglicher Feinpolitur die Forderung Strawinskys um: Musik und Tanz gehen eine „wirkliche Ehe separater Künste“ ein und verschmelzen im Sinne einer gleichwertigen Partnerschaft zum sinnlich- harmonischen Erlebnis.
Alisa Uzunova, Jay Ariës in „Firebird“, Ch. Goyo Montero © Jesús Vallinas
Vor ausverkauftem Haus auch in der zweiten Vorstellung (am 19.12.2024) trat diese Company einmal mehr den Beweis an, dass sie als wahre Wundertüte bzw. Wunderwaffe agiert, mit deren solistischem Potential und deren intensiven Gruppen-Elan sich choreografisch aus dem Vollen schöpfen oder eben auch schießen lässt. Am Ende von Goeckes Neukreation der neunteiligen Suite „Scènes de ballet“ fällt ein Schreck-Schuss und auch zuvor „knallt“ es dort ganz gehörig. Dies allerdings ist seiner bekannt originellen, irr- bis aberwitzigen, spannungs- und kontrastreichen Handschrift geschuldet, in der immer wieder ein kleiner „Fingerzeig“ zum Kunststück werden kann. Wer sie als Interpret verinnerlichen, dem Tempo sowie dem exakten Timing der sie prägenden Kipp-Momente gerecht werden will, muss über ein „gerüttelt Maß“ an Kondition, Koordination und mimischer Ausdruckskraft verfügen. Den Nürnbergern gelang dies mehr als überzeugend, sie performten den Goecke-Style perfekt! Das bedrohliche Grundrauschen vom Band, das als Intro den Ballett-Szenen vorangestellt ist, fügte sich nahtlos in die eisig-finstere Drohkulisse, die Michaela Springer auf der leer gelassenen Bühne mit ihrem Kostümdesign und der apokalyptisch anmutenden Hintergrundprojektion einer Nebelspirale samt Mondlicht schuf.
Fasziniert folgte man dem subtilen, geheimnis- und humorvoll bleibenden Geschehen, das Verlorenheit suggeriert und nahezu übergangslos exaltierte Soli-, expressive Duo- und energiegeladene Ensemble-Szenen verwob – verdichtet in der doppelbödig strukturierten Ballettmusik, die exakt 80 Jahre nach ihrer Entstehungszeit zur Inspirationsquelle für einen zeitgenössischen Choreografen wie Marco Goecke wurde. 1944 erhielt der Strawinsky in Amerika den Auftrag zur Ballettkomposition für die Broadway-Revue „The Seven Lively Arts“, mit der Produzent Billy Rose auf einen Prestige- und Kassenerfolg hoffte. Im Programmheft-Interview definiert Goecke heute Kunst als das nicht Greifbare und betont, wie sehr ihn momentan der „Zirkel von Gewalt, Krieg, Brutalität und die Sehnsucht nach dem, was uns ins Theater treibt, um zum Beispiel eine Revue zu sehen“ beschäftigt. Damit ist alles gesagt und diese starke Uraufführung bestens motiviert und atmosphärisch verständlich erklärt!
Ballett Nürnberg in „Scènes de ballet“, Ch. Marco Goecke © Jesús Vallinas
Viel erklärt hat auch Goyo Montero, der seinen im Vorjahr für „Les Ballets de Monte-Carlo“ choreografierten „Firebird“ gar als Wendepunkt in seiner Karriere empfindet. Man fragt sich allerdings, von wo nach wo sich das Blatt wenden soll. In der Theorie bzw. im Programmheft liest sich sein neues Erzähl-Konzept durchaus schlüssig, das angesichts drohender ökologischer Katastrophen die ursprünglich märchenhaft-folkloristische Folie in unmittelbare Beziehung zu unserer Gegenwart bringen will, indem es die Auslöschung einer indigenen Ethnie und die Dominanz einer vermeintlich höheren Zivilisation ausleuchtet. Auf der von Leticia Ganàn und Curt Allen Willmer mit merkwürdigen, glitzernden Lametta-Lianen (Plastik, das im Militärwesen zur Tarnung genutzt wird) ausgestatteten Ballettbühne allerdings fehlt eine clevere Dramaturgie, die diese Fabel dem Plakativen hätte entziehen können. Anders als in früheren Arbeiten vermisste man Monteros choreografische Finesse und seinen körpersprachlich ausgeformten Esprit. Die zuvor brillante Company blieb sehr geerdet, bodennah, wirkte phasenweise uninspiriert oder tänzerisch unterfordert, so dass insbesondere Strawinskys großartige Musik aus dem Orchestergraben heraus glänzen durfte. In der 1910 komponierten Originalversion, der später weiter drei Suiten folgten, zieht er in seinem „Feuervogel“ alle Register der Instrumentationskunst. Gewitzt spielt der Komponist mit allen erdenklichen Farben des Orchesters, lässt Schlagwerk, Celesta , Klavier, Harfen und die Blasinstrumente auch gedämpft in den verrücktesten Figuren sprechen und zeigt sich mit den hohen Anforderungen an Rhythmik und Metrik als Wegbereiter der Moderne – weitergeführt im „Sacre“ oder „Petruschka“. Zum Höhepunkt wurde am Ende der Suchscheinwerfer, der den am Boden liegenden, seinen Kräften beraubten „Firebird“ aufspürt, bis sich Alisa Uzunova in der Titelpartie mit Furor zum finalen Triumpf emporschwingt, um den charismatischen Anführer (Jay Aries) der Forschenden im pathosgeladenen Showdown endgültig auszulöschen.