Lucas Erni (Désiré), Chiara Scarrone (Aurora) © Altin Kaftira
Performance

Dornröschen im Wirbeltakt

Das Ballett am Rhein bringt in der Vorweihnachtszeit ein opulentes, amüsantes „Dornröschen“ in Düsseldorf heraus.

Von Bettina Trouwborst

Die Zeiger des großen Weckers am Bühnenrand rücken endlich auf die Ziffer 100. Er klingelt! Und Dornröschen erhebt sich langsam von ihrem Lager. Die Prinzessin ist umgeben von ihren Eltern, den weisen Frauen und einem Nachbarsjungen. Er ist der Sohn der bösen Fee Carabosse, der sich auffällig für das schöne Kind interessiert. Vor 100 Jahren schon hat er an ihrem 15. Geburtstag einen schönen Pas de deux mit Aurora getanzt. In Bridget Breiners Neufassung des Klassikers mit dem Ballett am Rhein im Opernhaus Düsseldorf gibt es manche Überraschung: Dornröschen wird nicht wachgeküsst, denn mit dem Wachküssen ist es heute so eine Sache – das wäre ein Übergriff. Und Carabosse ist alleinerziehende Mutter. Die Feen sind – wie bei den Gebrüdern Grimm – 13 weise Frauen. Prinz Désiré ist der Sohn der – eigentlich – bösen Fee. Er wächst Wand an Wand mit der Königsfamilie auf. Szenisch hat Bühnenbildner und Ausstatter Jürgen Franz Kirner das gut gelöst und drehbare Kulissen gebaut. Auf der nachtblauen Wald-Seite lebt der wilde Junge mit seiner Mutter, auf der Schloss-Seite residiert das behütete Mädchen. Während hier die Alleinerziehende die Spindel wetzt, spielt dort der Hofstaat mit dem Mädchen.

Bridget Breiner entwirft ausgesprochen schräge Ideen. Sie wirft einen zeitgemäßen, amüsanten Blick auf Tschaikowskys Opus Magnum. Ihre Version ist eine turbulente, märchenhafte Parodie und ein stilsicheres Ausstattungsballett. Von Petipas und Iwanows Urfassung (1890/Sankt Petersburg) wendet sie sich ab, hin zu den Gebrüdern Grimm.

Die komplexe Handlung ist eine Herausforderung. Doch es gibt ein Programmheft, das weiterhilft. Dann ist da noch der Erzähler, der geschmeidige Tänzer Alejandro Azorín, kostümiert in schwarz-weißen Nadelstreifen. Er erklärt einem kleinen Jungen mit ruhigen Gesten das Geschehen. Und er greift auch schon mal ein: So lässt er das Kind, das voller Mitleid für die ausgeladene Carabosse ist, in dieses Märchen eintreten. Und so arriviert es erst zu ihrem Sohn Désiré – und 100 Jahre später zum Prinzen.

Wobei, Prinzen gibt es bei Bridget Breiner auch nicht. Hier gibt es nur Helden. Sie werden von der Fliederfee, hier genannt Fliederchen, sogar mit einem Schild gesucht. Der Auftritt der Helden, die Dornröschen retten sollen, ist die pure Ironie. Sechs Kerle in Schlaghosen und mit freiem Oberkörper sind an die Zähne bewaffnet: Pfeil und Bogen, Speer, Dreizack, Pistole, Gewehr und Beil. Komisch ist dieses „Dornröschen“ auch. Allerdings streift diese Art von Komik bisweilen das Alberne. Schon in der Eingangsszene, als die Königin in der Badewanne sitzt und die böse Fee in Gestalt eines giftgrünen Frosches ihr die baldige Geburt einer Tochter in Aussicht stellt. Da klatscht ihr die Frosch-Frau respektlos auf den Po. Naja.

Chiara Scarrone (Aurora), Sophie Martin (dreizehnte weise Frau Carabosse)
© Altin Kaftira

Wirklich beeindruckend ist vor allem der Tanz. Die Choreografin schert sich nicht um die Kronjuwelen der Urväter. Die Auftritte der weisen Frauen lassen mehr an einen Hexentanz denken, wenn sie mit ihren silbernen Zauberstäben, die mehr an Schwerter erinnern, auf den Boden stoßen. Feinfühlig, federleicht sind die Pas de deux zwischen Übermutter Carabosse und ihrem Sohn, dem König und seinem zerbrechlichen Töchterchen, in das er ganz vernarrt ist, sowie von Prinzessin und Désiré. All diese Tänze charakterisieren die Beziehungen der Paare – durchaus augenzwinkernd.Süffig und leicht fließt eine Szene in die nächste. Es ist ein Fest!

Das Ensemble ist in Topform. Lucas Erni brilliert als temperamentvoller Désiré mit kraftvollen Sprüngen und rasanten Drehungen, Sophie Martin gibt eine sympathische Carabosse mit Charisma und Eleganz. Chiara Scarrone verkörpert mit ihrer großen Zartheit ein ungewöhnlich kindliches Dornröschen. Orazio Di Bella als karikierter König ist unterfordert, während seine Königin Balkiya Zhanburchinova ihr komödiantisches Talent ausspielen kann. Elisabeth Vincenti gibt ein bezauberndes Fliederchen.

Die Kostüme sind opulent und verändern sich mit den Jahrzehnten. Am 15. Geburtstag der Prinzessin tragen die weisen Frauen Cocktailkleider, extravagante Hüte und Hochfrisuren im Stil der 1950er Jahre. Die coolen Helden feiern die 1960er und die Schlaghosen die 1970er Jahre.

Mit ihrem Fluch, den die gute Fliederfee bekanntlich zu einem 100-jährigen Schlaf abmildert, hat sich die böse Fee selbst in den Finger gestochen: Auch ihr Sohn sinkt vor einem Schattenriss mit Bäumen und weißem Mond aufs Lager. Als er, frühzeitig geweckt durch den Erzähler, erwacht und erkennt, dass seine Mutter die Nachbarin in ihrem Rosen-Pavillon auf dem Gewissen hat, stößt er sie wutentbrannt von sich.

Lucas Erni (Désiré), Chiara Scarrone (Aurora)

Schwachpunkt des Abends ist die übergroße Fülle an Einfällen. Sie macht spätestens im zweiten Akt schwindelig. Die Bühne ist fast zwei Stunden ununterbrochen voll und in Bewegung. Einige von Bridget Breiners so sensiblen wie virtuosen choreografischen Sequenzen, insbesondere die für das hinreißende Paar Dornröschen/Désiré, wünschte man sich vor ruhigerer Kulisse.

Musikalisch irritiert der Abend. Gewöhnungsbedürftig, dass viele Sequenzen der Originalkomposition erklingen – aber nicht zu den entsprechenden Ballettnummern. Doch die Bearbeitung der Übergänge und die Neukomposition im finalen psychologischen Teil von Tom Smith fügen sich geschmeidig in Tschaikowsky hinein. Die Düsseldorfer Symphoniker unter Yura Yang kosteten den Reichtum der hochkomplexen Partitur beschwingt aus.

Geküsst wird übrigens doch noch: nach dem finalen Pas-de-deux – in gegenseitigem Einvernehmen.

Das Premierenpublikum war hingerissen. Alle Vorstellungen sind bis ins neue Jahr ausverkauft.