Die Stuttgarter John-Cranko-Schule zeigt wieder tolle Talente
Fotos: © Stuttgarter Ballett
Viel, viel reine Klassik, von Auguste Bournonville bis Uwe Scholz, gab es bei der diesjährigen Ballett-Matinee der Stuttgarter John-Cranko-Schule – klar, nach der Pandemie-Pause wollen die Kinder und jungen Erwachsenen zeigen, was sie in drei Jahren ohne Auftritte alles gelernt haben. Und wie sagte schon Petr Pestov, der verehrte ehemalige Lehrer, nach dem nun ein Saal der neuen Schule benannt ist: „Die Klassik ist die Klassik, aus ihr wächst alles. Man kann nicht professionell tanzen, wenn man das nicht beherrscht. Wenn man die Klassik gelernt hat, kann man leicht in andere Fächer gehen.“ Dass man auch mit der klassischen Ausbildung keine Tanzmaschine, sondern ein persönlichkeitsstarker und eigenwilliger moderner Tänzer werden kann, bewies am Vorabend Theophilus Vesely, Absolvent von 2012 – er gastierte mit dem Nederlands Dans Theater im Stuttgarter Theaterhaus und brillierte in den modernen, ganz unterschiedlichen Stilen von Sharon Eyal, Marco Goecke und William Forsythe.
Wer weiß, wo Ava Arbuckle, Gewinnerin bei fast sämtlichen Jugend-Wettbewerben und mit gleich drei Auftritten ein der Star der Matinee, in zehn Jahren einmal tanzen wird – der Texanerin liegt das Zeitgenössische bereits jetzt genau so gut wie die lyrische Odette, die sie im „Schwanensee“-Pas-de-deux aus dem zweiten Akt zeigte. Vor allem mit ihren schönen Armen vermittelte Arbuckle die Melancholie des verzauberten, Erlösung suchenden Wesens – ihre „Schwanenflügel“ hatten ein trauriges Zögern, eine elegische Schwere. Ihr sicherer Partner Mitchell Millhollin hielt sie in den perfekt zentrierten Drehungen, während Arbuckle die traurige Geschichte erzählte.
Genau wie sie war keiner der vielen Schüler nur ums Gelingen der Schritte bemüht, sondern jede Bewegung wurde mit Liebe zum Detail und bis in die Nuancen ausformuliert – eine verzögerte Drehung hier, eine besonders lange Balance oder eine kokette Phrasierung dort. Nie sah es manieriert aus, sondern stets leicht und schwebend. Ebenso bestechend: die exakte, musikgeborene Übereinstimmung der Corps-Szenen, etwa bei den Mädchen im vierten Satz der „Klassischen Sinfonie“ von Leonid Lawrowsky. In dem virtuosen Werk zu Sergej Prokofjews Musik glänzten auch die drei Paare Kaela Tapper und Luca Giovanetti, Abigail Willson-Heisel und Emanuele Babici sowie Beatriz Domingues und Joshua Nunamaker. Besonders herausragend war der Pas de quatre aus Bournonvilles vergessenem Werk „Abdallah“ mit Domingues, Aoi Sawano, der bezaubernden Celine Urquhart und Lincoln Sharp – ein leichter, feiner Tanz voll Grazie, auf dessen Interpretation man selbst in Kopenhagen stolz wäre.
Zu Ehren des Gründers gab es zwei Stücke von John Cranko, zunächst das liebenswert-ironische „Salade“ von 1968 zu Musik von Darius Milhaud, bemerkenswert nicht zuletzt wegen der bunten Kostüme von Elizabeth Dalton und dem Himmelssphären-Kopfschmuck der drei Damen. Die bilden zunächst eine artige Reihe mit dem einzigen Kavalier, in die virtuose Ordnung streut Cranko immer wieder Irritationen ein. Farrah Hirsch, Aoi Sawano, Ruth Schultz und Maceo Gerard tanzten mit Schalk in den Gliedern durch ihre kurzen, originellen Solos – verblüffend, wie welch leichter Hand Cranko das klassische Vokabular mit Humor auflädt. Zum Schluss bricht sich ein übermütiges karibisches Flair Bahn, die hübsche Miniatur macht richtig Spaß.
Den bringt auch immer wieder Crankos „Jeu de cartes“, die Herren aus der Akademie zeigten die zweite Runde des Strawinsky-Kartenspiels mit den angeberischen Herz-Karten und dem ständig störenden Joker. Die fünf virtuosen Herzbuben luden ihre kurzen, gar nicht so einfachen Variationen geradezu mit Übermut auf, jeder war dabei von seiner eigenen Leistung begeistert. Jacob Alvarado als Joker mischt sie mit der richtigen Portion fieser Freude auf.
Die Neuseeländerin Alice McArthur ist ein kleines, schmales, starkes Wesen und mit ihrer Emphase, mit der vibrierenden Spannung ihres Körpers eine vielleicht noch spannendere Nachwuchshoffnung als Ava Arbuckle – sozusagen die nächste Elisa Badenes. Sie zeigte gemeinsam mit Mitchell Millhollin einen Pas de deux aus der „Schöpfung“ von Uwe Scholz, die klaren, neoklassischen Linien beider waren von tiefer Hingabe beseelt. Das „Aquarium“ aus Demis Volpis „Karneval der Tiere“ verfehlt mit den kräuselnden, wie im Wasser schwebenden Tentakel-Armen nie seine magische Wirkung, Alessandro Giaquintos „Drifting Bones“ sorgte mit düsterer Intensität und viel Bodenkontakt für den modernen Kontrapunkt.
Die ukrainischen Schülerinnen und Schüler, die derzeit in Stuttgart wie an allen deutschen Tanzakademien zu Gast sind, hatten einen Gopak einstudiert, samt Blumenkränzen und Pluderhosen, mit rasend schnellen Drehungen und hohen Sprüngen – sie wurden heftig bejubelt. Vielleicht vermissen wir doch die Nationaltänze, die man vor 20, 30 Jahren in den Schulaufführungen öfter gesehen hat. Aber was kaum mehr gebraucht wird, wird kaum mehr geübt, die Tanzwelt entwickelt sich weiter. Dass die Pandemie den Ballettschulen einen Knick beim Nachwuchs in den mittleren und unteren Klassen beschert hat, sah man in den abschließenden Ausschnitten aus den inzwischen schon traditionellen „Etüden“, wo relativ wenige Kinder zwischen 10 und 14 Jahren dabei waren. Die Qualität der oberen Klassen und der Berufsakademie aber hat durch den Neubau nochmals gewonnen. Fast alle 23 Abschlussschüler haben einen Vertrag für die nächste Spielzeit, gleich sieben von ihnen kommen zum Stuttgarter Ballett.
Angela Reinhardt