Mit Ivan Liška © Privatarchiv
Performance

Die Rolle (D)eines Lebens. Judith Turos spricht über die Rolle der Giselle

Für manche Ballerinen ist es die Giselle, Aurora, Odette/Odile, für andere ein modernes Ballett, doch jeder hat sie: die Rolle, die das Tänzerinnen-Leben auf wundersame Weise ändert und in Erinnerung bleibt als die Herausforderung schlechthin. Wie gestaltet man eine solche Rolle, welche Fähigkeiten sind gefragt und  welche Tanztechnik gehört dazu?  

Judith Turos im Ballettsaal, 1997 © Charles Tandy

Judith Turos hat sich den Tanz im Laufe ihrer herausragenden Karriere bis zur Perfektion erarbeitet. Mittlerweile gibt sie ihre Erfahrungen in München als Ballettmeisterin des Bayerischen Staatsballetts weiter, und ihre Augen glänzen noch immer, wenn sie über den Tanz spricht. Sympathisch und hilfsbereit coacht sie ihre Tänzer mit Seriosität, Überzeugung und Herz, ist sie doch ein Mensch, der mit Kopf und Seele arbeitet. Akklamiert als eine der besten dramatischen Ballerinen unserer Zeit, haben ihre brillanten Rolleninterpretationen nicht nur an der Bayerischen Staatsoper in München, sondern auch international Ballettgeschichte geschrieben und Meilensteine für viele Nachwuchsballerinen gesetzt. Der unvergessliche Ballettpapst Horst Koegler nannte sie die „Münchner Marcia Haydee“. Für mehr als 25 Jahre wurde Judith Turos von der internationalen Presse als herausragende Ballerina und Bühnenpersönlichkeit gewürdigt. Denn wer sie auf der Bühne tanzen sah, konnte sie nicht mehr vergessen: Die Primaballerina verfügte souverän über die Noblesse des klassisch akademischen Tanzes bis hin zu der modernen Bewegungssprache eines Hans van Manen, Jiri Kylian, José Limon, Roland Petit, John Neumeier, Yuri Vamos oder Davide Bombana, die bedeutsame Rollen für sie kreiert haben. 1997 erhielt die Rumänin ungarischer Abstammung als erstes Mitglied des Bayerischen Staatsballetts den Titel „Bayerische Kammertänzerin“, 1999 den „Bayerischen Tanzpreis“ und ein Jahr darauf den ungarischen „Tanzpreis Europa“. An der Seite des Ballettdirektors Ivan Liška gab sie 2005 ihre Abschiedsvorstellung im Rahmen der Münchener Ballettfestwoche.

Im Rahmen unserer neuen Reihe „Die Rolle D(eines) Lebens“ haben Sie die Rolle der Giselle als erste zum Gespräch gewählt. Warum?

Diese äußerst komplexe Rollen-Darstellung, eine der wichtigsten überhaupt, hat vor rund 200 Jahren den Beginn einer Ära eingeläutet, in der das klassische Ballett sich so positionierte, wie es heute noch besteht. Die erste Rolle der Giselle wurde 1841 von der Ballerina Carlotta Grisi an der Seite von Lucien Petipa in der Rolle des Prinz Albrecht getanzt.

Ihr Lebenspartner, der Choreograf Jules Perrot, zeichnete damals die Choreografie gemeinsam mit dem italienisch stämmigen Tänzer Jean Coralli. Alle Aspekte, alle Facetten, auf die eine Ballerina in ihrer Bühnen-Darstellung achten sollte, sind hier vorhanden und werden von jungen Tanzstudentinnen bereits in die Schule gelernt: Die ausgefeilte klassische Technik, die Lyrik, die Dramatik und die stilistische Arbeit.

Wie entstand das Werk?

Das romantische Ballett „Giselle“ nach einem Libretto von dem Schriftsteller Théophile Gautier und zur Musik von Adolphe Adam ist eines der wegweisenden Werke im lyrischen Ballett des 19. Jahrhunderts. Théophile Gauthier, übrigens einer der führenden Köpfe in der romantischen Bewegung in Frankreich, und ein großer Bewunderer schöner Ballerinas, wurde von der Sage der „Willis“ inspiriert, junge Frauen, die vor ihrer Hochzeit gestorben sind. Ein tragisches Schicksal wird erzählt: Giselle, das Bauernmädchen, das, verführt und von einem verkleideten Edelmann verraten wurde, tötet sich in Trauer. Nach ihrem Tod schützt sie ihren Geliebten vor den rachsüchtigen Willis (Waldgeistern) und deren Königin Myrtha, die nachts ihre Gräber verlassen, um an Wegkreuzungen die Lebenden zu zwingen, sich zu Tode zu tanzen.

Judith Turos und Jan Broeckx in Giselle 1986 © Anne Kirchbach

Welche Lernprozesse durchgeht eine Ballerina, wenn sie diese Rolle einstudiert?

Das erste, was einer jungen Ballerina in dieser Rolle beigebracht wird, ist die Geschichte und die romantische Stilrichtung, die multiple dramatische Reihenfolge, während sie schrittweise die Choreografie lernt. Sie sollte im 1. und auch im 2. Akt wie eine Schauspielerin agieren. Diese Rolle ist allerdings sehr komplex und stilistisch gar nicht ähnlich mit anderen Partien des späteren klassischen Ballett-Repertoires. Sie erfordert viel Sensibilität, denn es dominiert hier nicht nur der Oberkörper, die Armführung oder die Beinarbeit. Es ist die unglaubliche Genauigkeit in der Fußarbeit auf Spitze, die geschmeidig und leicht bleibt, der Gesichtsausdruck, der stets natürlich bleiben muss, nicht zu vergessen Atmung und Bühnenpräsenz. Diese ganzen Elemente: Tanz, Schauspiel, stilistische Darstellung sind in der Dramatik des ersten Aktes äußerst schwierig zu kombinieren. Der Tanz drückt nonverbal alle Gefühle aus, die sie erlebt. Giselle und Albrecht entdecken beide ihre Liebe zueinander, tanzen gemeinsam, ehrlich in ihrer Neugier und Naivität. Jeder Schritt, jede Berührung, ist mit so viel zarten Gefühlen verbunden, als könnte niemals einer den anderen verletzten.

Im 1. Akt ist die Giselle ein einfaches und unschuldiges naives Bauernmädchen, das mit seiner Mutter im Wald lebt. Sie kennt das opulente, moralisch verruchte Leben der Reichen nicht und glaubt Albrecht sein Verlobungsversprechen.

Judith Turos in Giselle 1986 © Anne Kirchbach

Hier entfaltet die Ballerina die ganze Kraft ihrer dramatischen Schauspielkunst, aber ohne es zu übertreiben. Giselle ist natürlich, sensibel und leidenschaftlich, ein Wesen mit weit aufgerissenen Augen, süß, aber bedroht durch ihre Herzkrankheit. Das Drama entfaltet sich, als der Betrug Albrechts, der eigentlich mit einer Adeligen, Bathilde, verlobt ist, aufgedeckt wird. Giselle erlebt einen Schock, bricht vor den Augen Ihrer Mutter zusammen und stirbt. Ihr Sterbensakt, ihre krampfhaft zitternden Finger und ihr blasses Gesicht, lassen das Publikum den Atem anhalten.

Welchen Erfahrungen haben Sie persönlich mit dieser Rolle gemacht?

Die große Herausforderung ist, die Rolle in beiden Akten zu beherrschen. Beide Partien sind stilistisch grundverschieden; entweder sind Tänzerinnen gut im ersten oder eben im zweiten Akt, der generell als technisch viel schwerer betrachtet wird. Während meiner Ausbildung an der Bolshoi Ballettakademie in Moskau hatte ich zum Glück Repertoire-Unterricht bei bedeutenden Ballettpädagoginnen und habe viele Vorstellungen als Studentin mitgetanzt. So konnte ich den Zweiten Akt perfekt in den Griff bekommen. Aber mit meinem ersten Engagement am Theater musste ich plötzlich auch die dramatische Partie des Ersten Aktes tanzen. Ich habe mich nicht wohl gefühlt und oft übertrieben, wenn ich Prinz Albrecht zu stark angestrahlt habe oder ihm zu schnell hinterhergelaufen bin (lacht herzlich). Die Finnesse fehlte. Ich dachte, Giselle ist ein Bauernmädchen, das einfach und glücklich ist. Die erste Ballettmeisterin, mit der ich die Rolle für die Giselle-Premiere hier in München erarbeitet habe, war Annette Page. Sie brachte mir zwar eine Menge Details bei, aber um die Rolle zu beherrschen, habe ich vor allem Zeit gebraucht. Die erste Vorstellung war für mich, was den Ersten Akt betrifft, nicht zufriedenstellend, während der Zweite Akt perfekt lief. Das änderte sich erst durch weitere Vorstellungen, viel Lesen und Vertiefung der Rolle in stilistischer Hinsicht.

Welche Ballerina haben Sie in Erinnerung als die perfekte Giselle?

In Moskau habe ich viele Giselles erlebt, aber eine Offenbarung war für mich das Traumpaar: Marina Kondratyeva und Māris Liepa, die ich noch Ende der 1970-er Jahre erleben durfte. Später, im Westen, als meine Tanzkarriere begann, war es Carla Fracci, die mir viel Inspiration für die Rolle gegeben hat. Es gibt natürlich auch andere Beispiele, die mir während der Jahre imponierten, wie z. B. Alicia Alonso, Natalia Makarova oder Alessandra Ferri.

War der zweite Akt für Sie leicht zu tanzen?

Ja, absolut, ich fühlte mich im zweiten Akt zuhause. Hier tanzt Giselle als Willis so leicht wie eine Feder und bringt die Art der „Sylphide“ in ihrer ganzen Haltung zur Geltung: Sie kann Albrecht nicht anschauen, nichts sagen, ihn nicht berühren, nur spüren, riechen und fühlen.

Es sind diese immer wiederkehrenden Verbindungsbewegungen, Bourrées, Schritte und Sprünge, die den Eindruck erwecken, dass sie nicht mal den Boden berührt. Die Schultern der Ballerina haben eine andere Art von Épaulement (die leichte Wendung der Schulter nach rechts oder links) ihre Arabesques müssen leicht wirken, die Arme sind weit ausgestreckt und sie ist faszinierend in ihrem Übergang in die transzendente Welt, in der sie wie ein Apostroph in der Luft schwebt.

Was ist das typische Motiv für die klassische Ausführung der Giselle und warum hat dieses Ballett einen solchen Erfolg beim Publikum?  

Giselle ist eine fesselnde Geschichte mit tiefromantischen Handlungselementen: Liebe, Untreue, die Kräfte der Natur und Tod, tanzende Waldgeister. Es ist die Kombination der pantomimischen und tänzerischen Ausdrucksmittel, die sich immer abwechseln. Die Hauptfiguren Giselle-Albrecht, das wiederkehrende Liebesthema, das sich auch durch die Musik zieht. Das ganze Ballett ist auf einen Ausgleich der Elemente angelegt, weil die Macht des Schicksals, die beide Darsteller verbindet, irgendwo auch asymmetrisch zu sein scheint. Giselle ist eine bescheidene, sterbende und doch transzendente Figur, der faszinierende Albrecht ist mächtig, aber schwankend, moralisch ambivalent. Doch die überirdische Verbindung zwischen ihnen ist das, was Giselle als romantisches Ballett wirklich in ein großes Ereignis verwandeln kann.

Interview von Mihaela Vieru

Das Interview wurde in Dance for You Magazine Frühlingsausgabe 59/2013