Die neue Chefchoreografin des Ballett am Rhein, Bridget Breiner, präsentiert ihren ersten Abend mit Choreografien von Hans van Manen, David Dawson und von ihr selbst.
Von Bettina TROUWBORST
Düsseldorf. Eine Frage schwebt über dem ersten Abend des neu formierten Ballett am Rhein Düsseldorf-Duisburg unter der neuen Direktion von Bridget Breiner und Raphaël Coumes-Marquet: Wo kommen wir her? Sie ist auch künstlerisch gemeint. So verweist die US-Amerikanerin in dem dreiteiligen Programm auf ihre neoklassischen Wurzeln mit großen Werken der Wegbegleiter Hans van Manen und David Dawson. Das Premierenpublikum zeigte sich begeistert von der Rückkehr des Spitzenschuhs. In den letzten vier Jahren hatte er unter Demis Volpi keine zentrale Rolle gespielt.
Smaragdgrün, kobaltblau, lila und überhaupt in schillernden Farben leuchten die üppigen Schwanzfedern der Paradiesvögel. Sie bilden eine pyramidenartige Skulptur, deren Mitte ein junger Mann in Schwarz entsteigt. Zwischen Homo Sapiens und Vogel sind diese Wesen angesiedelt, die Lucas Erni nun neugierig beobachtet. Mit einem Blatt Papier, versehen mit Längenmaß-Einheiten, vermisst er den Raum. Alexander von Humboldt, niemand Geringerer als der Weltgelehrte und Forschungsreisende (1769-1859), inspirierte Bridget Breiner, die neue Chefchoreografin des Ballett am Rhein, zu der zentralen Figur ihrer ersten Uraufführung für das Ballett am Rhein, „Biolographie“ zu Rachmaninows 2. Klavierkonzert. Er repräsentiert den Menschen, der seinen Platz in der Gesellschaft, in der Natur, kurz in der Welt sucht.
Hans van Manen „ Four Schumann Pieces “: Paula Alves, Simone Messmer, Orazio Di Bella © Yan Revazov
Skyler Maxey-Wert, Simone Messmer in David Dawsons „Empire Noir“ © Yan Revazov
In der Worterfindung „Biolographie“ verstecken sich die Vokabeln Biografie, Biologie, Geografie. Sinnfällig spiegelt sich dieser Anspruch im atmosphärischen Bühnenbild von Jürgen Franz Kirner, wenn im zweiten Teil der Raum zu einer Mischung aus Galerie und Bibliothek wird. 20 vertikale Reihen mit antiquiert anmutenden Zeichnungen von Pflanzen und Tieren hängen vom Bühnenhimmel bis zum Boden. Blätter mit QR-Codes weisen in die Gegenwart. Und wenn sich in der Premiere ein Seil plötzlich löst und zu Boden fällt, stört das niemanden. Zu stark ist die Konzentration auf das atmosphärische Setting. Zur schwärmerischen, melancholischen Musik Rachmaninows tanzt Lucas Erni nun in verschiedenen Konstellationen, darunter ein inniger Pas de deux. Das Programmheft verweist auf die Figur der „Tochter“ in diesem zweiten Teil, der all unseren Ahnen gewidmet ist. Ein Anspruch, der sich nicht erfüllt. Man ist irritiert und sucht nach Sinn in diesem Stück.
Erst im dritten Teil stellt sich der Eindruck des Zusammenfließens der Generationen und Lebewesen zu einem Natur-Kosmos ein. Das Ensemble in naturfarbenen Trikots mit floralen Tattoo-Mustern, mal auf Spitze, mal in Schläppchen, schlägt Purzelbäume, hüpft auf der Stelle, steht auf einem Bein wie ein Storch, lässt die Hände flattern wie Fabelwesen auf einer Waldlichtung. Im Hintergrund mahnt ein Eisberg…
Ako Sago, Yoav Bosidan, Lotte James in Bridget Breiners „Biolographie“ © Yan Revazov
„Biolographie“, Ch. Bridget Breiner © Yan Revazov
Es glänzt, das neu formierte Ensemble. Was es leisten kann, wird vor allem deutlich in David Dawsons „Empire Noir“ (2015) in deutscher Erstaufführung. Zehn Tänzerinnen und Tänzer in schwarz-grauen Ganzkörpertrikots wirbeln durch hochvirtuoses choreografisches Material aus Schritten, Posen, Drehungen, Hebungen, Würfen, organisch fließend. Wie Nachtgestalten vor schwarzem Hintergrund treibt es sie umher in ständig wechselnden Formationen. Der technische Anspruch ist enorm. Dawson spielt mit dem klassischen Kanon, setzt minimalistische und akrobatische Akzente, inszeniert gewagtes Partnering. Doch während die stark rhythmische, bisweilen dramatische Musik eine ständige Gefahr suggeriert, bleibt der Tanz reiner Selbstzweck. „Empire Noir“ beeindruckt, aber es berührt nicht.
Hans van Manens „Four Schumann Pieces“ dagegen gelingt es, in seiner schlichten Klarheit, Sympathie insbesondere für die zentrale Figur zu wecken. Schon durch die Wahl der romantischen Musik, dem 3. Streichquartett von Robert Schumann, ist es ein ungewöhnliches Werk. Es entstand 1975 für das Royal Ballet London und den Principal Dancer Anthony Dowell. Es war das erste Mal, dass der Meisterchoreograf einen männlichen Tänzer ins Zentrum rückte. Sogar der Jahrhundert-Tänzer Rudolf Nurejew entdeckte diesen Part für sich Jahre später.
Für Orazio di Bella, den Martin Schläpfer in der Spielzeit 2018/2019 ans Haus holte, also eine große Ehre, diese Rolle füllen zu dürfen. Er hat die verinnerlichte Persönlichkeit dafür, ganz in sich zu ruhen, während fünf Paare hinter ihm vorüberziehen, ihn wie in einer Rêverie umtanzen und versuchen, in ihre Welt ziehen. Den technischen – und konditionellen – Anforderungen ist er absolut gewachsen.
Nelson López Garlo, Nami Ito in „Biolographie“, Ch. Bridget Breiner © Yan Revazov
Hans van Manen war seinerzeit – vor 50 Jahren – weit voraus. Es gibt knisternde Pas de deux – mit einer Frau, mit einem Mann. Auch was die Kostüme angeht: Die Frauen tragen türkisfarbene Kleider, die Männer rosa Hemden. Der Eigenbrötler durchlebt Ängste und Sehnsüchte, die durch den Strom der Paare durchkreuzt werden. So zieht er sich immer wieder zurück in die Rolle des Zuschauers. Im Finale brilliert di Bella noch einmal in einer grandiosen, sich immer rasanter entwickelnden Sequenz mit den Paaren, an deren Ende er mit ausgebreiteten Armen vor dem Publikum auf die Knie fällt. Er könnte strahlen, doch der Sizilianer bleibt ernst. Als könne er sein Glück kaum fassen.
Ein schöner Einstand und Saisonbeginn für das neue Leitungsteam.