Die Nervosität im Vorfeld war groß. Bloß keine Coronafälle vor der Tournee nach Israel – so lautete die Devise im März beim Bayerischen Junior Ballett. Doch nicht nur das Gastspiel für die 16 Tänzerinnen und Tänzer zwischen 17 und 20 Jahren stand auf dem Spiel. Hinzu kam, dass sich viele neue Ensemblemitglieder ins Repertoire einarbeiten mussten – wie das alle zwei Jahre üblich ist in der mit dem Bayerischen Staatsballett verquickten Nachwuchstruppe. Eric Gauthiers pointiert witziges Duett „Ballett 102“ – meist ein Garant für einschlagenden (Lach-)Erfolg – bedarf stets erst eines Vertrautwerdens. Bei der diesjährigen Frühjahrs-Bosl-Matinee, deren erste Vorstellung traditionell zum Abschluss der Ballettfestwoche stattfindet, klappe dies jedenfalls bestens.
Mit im Gepäck hatte der künstlerische Leiter Ivan Liška außerdem Jirí Kyliáns 2018 – zum 40-jährigen Jubiläum der kleinen Kompanie vom Nederlands Dans Theater II – übernommenes 12-Interpreten-Stück „Un ballo“. Getanzt wird hier leicht folkloristisch, dabei raffiniert modern in Schläppchen zu Maurice Ravels „Pavane pour une infante défunte“ (Musik vom Band). Für getragen-feierliche Stimmung sorgt zudem ein den schwarzen Bühnenraum auf halber Höhe mit flackernden Kerzen erleuchtender Himmel. Das ist schön anzusehen. Aus der Dunkelheit oder Gruppe schälen sich drei solistische Paare. Das Besondere diesmal ist, wie fabelhaft alle miteinander harmonieren und dabei zugleich für sich allein oder im Duett ihre Körper immer akkurat präzise in Bewegung setzen.
Am Ende des ersten Vorstellungsvormittags tritt das Bayerische Junior Ballett noch einmal – diesmal in voller Besetzung – auf. In einer fein fließenden, anspruchsvollen Neukreation von Maged Mohammed, der früher selbst Tänzer beim Bayerischen Staatsballett war, präsentiert man sich im besten Licht. „Appalachian Spring“ ist ein eleganter, mit der Form von Paaren und Gruppen spielender Zugewinn für die jungen Protagonisten. Als führende Stimme agiert mittendrin die Frau im einzigen roten Trikot. Aaron Copland hat die Musik für Martha Graham komponiert, die 1944 in diesem erzählerischen Kurzballett auch selbst die Hauptrolle tanzte. Die sonst um einen Hochzeitstag gebaute Handlung gibt es diesmal nicht. Dennoch schwingt in Mohammeds Abstraktion etwas von Grahams choreografischem Spirit mit. Das hat der gebürtige Ägypter gut gemacht.
Zwei zusätzliche Beiträge erweiterten das Programm der zweiten Aufführung am 10. April. Da integrierte man kurzerhand einen Pas de deux aus dem zweiten Akt von Tschaikowskys „Schwanensee“ – getanzt von dem aus Charkiw in der Ukraine geflüchteten Solistenpaar Irina Khandazhekvskaya und Anatolii Khandazhevksky. Beide trainieren seit bereits drei Wochen in München, unterstützt durch die Heinz-Bosl-Stiftung. Der in diesem Jahr wieder verliehene Konstanze-Vernon-Preis ging an die Brasilianerin Rafaelle Queiroz.
Aus Rio de Janeiro zur weiteren Ausbildung an die Akademie des Tanzes Mannheim und 2009 ins Ensemble des Badischen Staatsballetts Karlsruhe geholt hatte die begabte Tänzerin Birgit Keil (Tanzstiftung Birgit Keil Stuttgart). Sie fungierte neben Christian Spuck (Ballettdirektor des Ballett Zürich), Gigi Hyatt (Pädagogische Leiterin und stellvertretende Direktorin, Ballettschule Hamburg Ballett John Neumeier) und Frédéric Olivieri (Ballettdirektor der Accademia Teatro alla Scala) als Mitglied in Ivan Liškas (Vorstandsvorsitzender der Heinz-Bosl-Stiftung) Auswahljury. Schon damals überzeugte Rafaelle Queiroz in den ihr anvertrauten Rollen, darunter zuletzt mehreren Kreationen. Seit 2019 tanzt Queiroz nun im Ballett Zürich. Dem Münchner Publikum stellte sie sich folgerichtig mit einem Pas de deux aus Spucks Verdi-Vertanzung „Messa da Requiem“ vor. Dabei wurde sie auf das Beste von ihrem Landsmann Thiago Bordin begleitet.
Im Hauptprogramm mit von der Partie waren natürlich die Studierenden der Münchner Ballett-Akademie. Auch hier versucht man jungen Menschen zu helfen, deren Träume gerade zerschossen werden. So hat man bislang 13 Jungstudierende verschiedener Altersstufen aus ukrainischen Instituten aufgenommen und privat untergebracht. Ein Unterfangen, das unbedingt mehr Öffentlichkeit braucht.
Auf die Jüngsten seiner Akademie musste deren Leiter Jan Broeckx aufgrund einer Entscheidung der gastgebenden Bayerischen Staatsoper aber dieses Jahr noch verzichten. Sein „Klassenkonzert“, in Zusammenarbeit mit weiteren Dozenten schwungvoll aus täglichen Trainingselementen arrangiert, kam beim Publikum trotzdem hervorragend an.
Immer wieder gab es Applaus für die sich schnell ablösenden Verbände – Mädchen auf Spitze, dazwischen immer höher und weiter springende Jungs – die allesamt recht adrett und sauber ein sich stetig steigerndes Schwierigkeitspensum absolvierten. Elf von ihnen durften noch einmal auf die Bühne – darunter der langbeinige, über Jahre hier in Ausbildung herangereifte Samuel Baßler. Gemeinsam mit den beiden zeitgenössischen freien Münchner Choreografen Jasmine Ellis und Matteo Carvone war im Rahmen der Biennale Tanzausbildung in Stuttgart „YOU among us“ kreiert worden. Das Stück, in dem Nachdenken über Hierarchien und Fragen nach Diversität wie selbstverständlich tänzerisch aufbereitet werden, hat einiges an Showqualität aufzubieten. Im Gedächtnis bleibt ein kopflos-munter unter Tüll hervorragendes Beinpaar. Es steckt in pinken Sneakern und hat das Tanzen anders drauf als der Rest. Toll, diese stilistische Bandbreite.
Vesna Mlakar