Heimatplanet © Ida Zenna
Kritiken

“Der kleine Prinz” in Leipzig

Es beginnt so schön zu sanften Klängen, die dann immer wieder mal regelrecht mystisch wirken, aber dann auch wieder aufbrausen, richtig krachen dass es scheppert. Aber das ist kein Problem. Das Leipziger Gewandhausorchester unter der Leitung von Dominik Beykirch vermag es bestens, die zur Collage gefügten Passgen und Ausschnitte der Kompositionen von Helge Burggrabe, Milanka Zilnik und Ralph Vaughan Williams klanglich zusammenzufügen. Besondere solistische Akzente setzen die Pianistin Charlotte Steppes und als Soloviolinist Yun-Jin Cho in der Romanze für Violine und Orchester von Vaughan Williams. Dass bei Auswahl und Zusammenstellung der Musik sich allerdings kaum schlüssige und dramaturgische Handlungsstrukturen ergeben erweist sich immer wieder als Problem.

Und so wie das Leipziger Gewandhausorchester der musikalischen Seite des Abends zugutekommt, so vor allem die Tänzerinnen und Tänzer des Leipziger Balletts. Diese Mitglieder der bestens geführten Kompanie des Ballettdirektors Mario Schröder wird aber leider nur bedingt entsprechend den sichtbaren, mitunter aber vor allem zu ahnenden Fähigkeiten, gefordert und somit eben auch nicht gefördert durch den als Gast verpflichten Choreografen Bryan Arias.

Alle Fotos: Ida Zenna

Der kleine Prinz zuhause (Landon Harris) © Ida Zenna

Er will seine Geschichte vom kleinen Prinzen, der hier doch eher ein junger Mann ist, schon bei assoziativer Aufnahme einiger Motive und Personen aus dem erstmals 1943 in New York erschienen Kunstmärchen mit eigenen Illustrationen des französischen Autors Antoine de Saint-Exupéry, mit seiner choreografischen Uraufführung aber in eigentlich neu erzählen. Da begibt er sich natürlich auf ein schwieriges Gebiet, denn sowohl die Geschichte des kleinen Prinzen, die Zeichnungen des Autors, vor allem aber etliche Zitate haben so etwas wie Kultstatus erlangt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Abgewandelt – und welche Kunst eher, als die wortlose des Tanzes – könnte hier ganz spezielle Akzente setzten und dieses Zitat in neue Ebenen führen in angemessener Abwandlung: „Man tanzt nur mit dem Herzen gut.“

Keine Frage, das Herz tanzt mit bei Landon Harris in der Titelrolle des Balletts in seinen bewussten Abweichungen vom Original des Märchens, in der Absicht des Choreografen dieses aus der Poesie der Weite des Phantastischen in die – vor allem im zweiten Teil – eher realitätsbezogene Vergegenwärtigung zu bewegen.

Dies aber gelingt doch eher in der Optik einer großräumigen Bühnengestaltung von Alain Lagarde. Und hier, vor allem im ersten Teil, werden Fantasie und Poesie Räume geöffnet. Im Hintergrund Bilder von kosmischer Weite, davor in nächtlicher Einsamkeit das Zimmer des Prinzen, der hier allein mit seinem strengen Vater lebt. Da kann die nächtliche Reise, wenn Carl van Godtsenhoven als Vater-König rigoros die Glotze abschaltet, doch nur in die Ferne der Fantasien gehen, und diese in Gestalt der von Madoka Ishikawa getanzten Rose zu ihm kommen. Ansonsten hat es der Prinz nicht so einfach mit Facundo Luqui als Bruder-Eitler, aber Vater-König setzt die Grenzen.

Rosen in der großen Stadt

Dann geht es aus dem Schachtelzimmer auf den Markt mit den Bauklötzer-Häusern eines Festes im zuckersüßen Spielzeugland vor eigentlich aber ganz schön bedrohlicher, kosmischer Kulisse. Aber was so zuckersüß scheint ist nicht so. Als Vermieter-Geschäftsmann sagt Joao Ludwig wo es lang geht, wer in welchen Bauklötzern wohnen darf. Beim Prinzen und den seinen ist die Kasse leer, und selbst auf den Straßen des Spielzeuglandes wäre das Leben dann doch kein Vergnügen. Aber zum Glück, die Solidarität ist noch nicht gänzlich abhanden gekommen, Caetana Silva Dias als Händlerin hilft aus. Aber der Prinz hat seine Träume, seine Sehnsüchte nicht begraben, und da sind auch die Piloten, Evelina Andersson und Marcelino Libao, ihnen gilt seine Bewunderung, denn er möchte abheben, dieses Spielzeugland hinter sich lassen, beinahe, um die geliebte Rose zu vergessen, folgt er dem von Pedro Luz schwankend getanzten Trinker.

Und immer wieder ist sie da, diese Rose, der Prinz muss aufbrechen, aus dem im Grunde ganz und gar nicht idyllischen Spielzeugland in die kriminelle Kälte einer Großstadt mit grauer, bedrohlicher, Silhouette in finsteren Grautönen. Auch ein Universum. Und natürlich tanzt Marcos Vinicius da Silva in typischen Haltungen hier eine Dealer-Schlange. Als Polizist stellt Allessandro Reppelini die Weichen für Recht und Ordnung, wie er es sieht, was Vivian Wang als Migrantin-Fuchs schmerzhaft zu spüren bekommt. Aber er, der Prinz, und sie, zwei Einsame, zwei Verirrte, immerhin, der Tanz schafft Momente von freundschaftlicher Nähe. Aber was ist Wahrheit, was ist Traum, ist eine Rose, eine Rose, eine Rose, wenn da eine ganze Rosengruppe tanzt? Auch der Migrantin kann er nicht helfen, die Weichen stellt eben hier der Polizist, Abschiebung. Der Prinz flüchtet sich zum Dealer, lässt sich umschlängen, die Kälte der Realität ist unerträglich, und wenn, dann nur zu ertragen im Rausch. Und so verschieben sich immer stärker Realität und Wahrnehmungswunsch, doch Pilot, doch ab in die Wüste, doch Absturz, doch Rettung, und doch als einzige Rettung, das Leben zu ertragen, die ganze Offenheit der Illusionen? Und je märchenhafter, desto gefährlicher, denn sie brauchen Nahrung, diese Illusionen.
Aber ob diese der am Ende endlos rieselnde Theaterstaub bietet, bleibt eine von etlichen ungeklärten Fragen, die diese choreografischen Versuche von Bryan Arias bei höchst ehrenwerten Absichten stellen.

Prinz und Dealer-Schlange (Landon Harris und Marcos Vinicius Da Silva )

So wie nämlich der Staub rieselt, so verebbt auch der Tanz, besonders in den grauen Gruppenchoreografien.
Da hätten die Leipziger Tänzerinnen und Tänzer, in den kleineren Solorollen, wie mit Yun Kyeong Lee als Raucherin-Laternenanzünderin, Ester Ferrini als Busfahrerin-Geographin, oder Andrea Carino und Marcelino Libao als Follower, sich ganz sicherlich stärkeren Anforderungen stellen und sie auch glänzend bestehen können. Ja, es geht schon um Prozesse gesellschaftlichen Verfalls grundlegender Werte, um tödliche Einsamkeit und Kälte, alles ehrenwerte Motive, aber der Tanz ist auch – da gäbe es schon wesentliche Nähe zum Original, „Der Kleine Prinz“ – die beste Kunst der Differenzierung, assoziativer Weite, der Öffnung eigener Horizonte und Wahrnehmungen, Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche, auch im Umgang mit Versagen und Irrtum, bei den Zuschauenden.

Boris Gruhl