Karl Alfred Schreiners „Peer Gynt“ für das Staatstheater am Gärtnerplatz
von Vesna Mlakar
Schwätzer, Träumer, Hochstapler, Lügner … – Noch bevor die Vorstellung so richtig beginnt, bekommt das Publikum im Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz eine Latte an Schlüsselwörtern auf den betttuchartigen Zwischenvorhang projiziert. Keine schlechte Idee, da gerade die Figur des Peer Gynt eine eigentlich völlig unfassbare ist. Als der Knopfgießer – in Henrik Ibsens 1876 in Oslo uraufgeführtem Schauspiel eine eher kleine Rolle – Peer mit seinem Komplettversagen in der grundexistenziellen Sache Leben konfrontiert, fehlt dessen Persönlichkeit jedweder Kern. Für den Himmel ist Peer Gynt zwar zu schlecht, aber auch kein wahrhafter Sünder.
Genau hier setzt Karl Alfred Schreiner mit seiner Tanzversion des ursprünglich als „dramatisches Gedicht“ bezeichneten Theaterstücks an. Die Szene des Knopfgießers aus dem fünften und letzten Akt an den Anfang zu stellen, ist sein initialer Kunstgriff. Sein zweiter besteht darin, zum ersten Mal in einer eigenen Produktion ganz konkret mit Worten und Sprache zu arbeiten und einen Schauspieler in sein Ballettwerk einzubinden – ohne diesem choreografische Handlungen aufzuzwingen.
Erwin Windegger betritt die Bühne. Seit sieben Jahren ist er festes Ensemblemitglied des Staatstheaters am Gärtnerplatz. 2022 wurde er zum „Bayerischen Kammerschauspieler“ ernannt. An der Textfassung der bilderbuchhaft schön gelungenen Uraufführung hat er mitgearbeitet. Nun wird Windegger in schwarzem Outfit, bafuß und weiß – wie für eine Butoh-Inszenierung – geschminktem Gesicht zum integralen Bestandteil des Stücks und scheint irgendwann selber nicht mehr ganz zu wissen, wie ihm geschieht.
„Tschuldigung, bist du Peer?“ fragt er, der 90 Minuten lang stark an Mephisto oder Nosferatu erinnert, den am Boden liegenden Tänzer. Alexander Hille, intensiver Interpret des Peer Gynt, springt auf und zwischen den beiden entwickelt sich ein Dialog, der bis zum Schluss nicht mehr abreißen wird. Text und Choreografie verschmelzen, wobei das, was Windegger mit seinem reichen Register an Farben als Knopfgießer spricht, bei seinem Gegenüber Bewegungsregungen motiviert beziehungsweise den nächsten Teil von Peer Gynts Erzählung anstößt.
Kaum etwas erscheint wirklich real, denn Schreiner rollt seine Inszenierung geschickt von hinten auf. Er findet zudem choreografisch überzeugende Lösungen, um das Fiktionale und die Dimension von Lügengeschichten deutlich zu machen. Besonders zeigt sich das zu Beginn, wo er Peer – mit ausdrücklichem Blick auf den Knopfgießer, dem er ja entkommen will – Posen der anderen Tänzer verändern und zurechtrücken oder Gestalten um sich herum verschieben lässt im herrlich simplen Einheitsbühnenbild von Heiko Pfützner, das trotz Rundhorizont-Abstraktion ganz multifunktional daherkommt.
Seinem Peer Alexander Hille, der sich durch das ganze Stück zieht, ordnet Schreiner in jeder Lebensperiode ein Alter Ego zu. Auf diese Weise wird schnell die zweite Ebene der Selbstreflexion erreicht. Schon bald interagiert Peer physisch mit seinem Kinder-Ich. Als solches legt sich Ethan Ribeiro in einem tollen Pas de deux mit dem viel massigeren und größeren Tänzer Willer Gonçalves Rocha (Aslak) an und rennt mit dessen Braut Ingrid (Jana Baldovino) davon. Die Frage „Wer bist Du“ gipfelt in einem Duett von Peer mit sich selbst als Heimkehrer (David Valencia). Letzteren erwürgt nach einer stürmischen Schiffsfahrt Knopfgießer Windegger.
Gischt und tosende Wellen liefern wirklich beeindruckende Videoaufnahmen (Christian Gasteiger, Raphael Kurig), die über den die Bühne abschließenden Rundhorizont als ideale Projektionsfläche toben. Man hört Windegger gerade noch „Die Natur ist witzig“ sagen, dann beginnt es akustisch zu donnern und zu gewittern. Unförmig-graue Sackkissen, die zuvor wie Felsen anmuteten und später in einer Art Harems-Bild eine sofaartige Arena formen, werden von Tänzern in Regenmänteln zu einem Haufen aufgetürmt. Anschließend wird das Material, das bei jeder Gewichtsverlagerung nachgibt, bestiegen. Ineinander verhakt kippt die Masse schwarzer Körper wie vom Meer gepeitscht mal hierhin, mal dorthin. Dazu erklingt Edvard Griegs imposante Sturm-Musik zu „Peer Gynts Heimkehr“. Das imaginäre Schiff aus Kissen zerfällt.
Schreiner schöpft aus dem poetisch Vollen, übertreibt seine vielen Einfälle jedoch nie. Der wortgewandte und oft sehr emotional auftretende Knopfgießer darf zwischendurch auch Passagen des Trollkönigs sprechen oder einen Monolog aus der Szene im Irrenhaus wiedergeben. Beim Tod von Peers Mutter Ǻse darf er einen Moment lang sogar in die Haut der Hauptfigur selbst schlüpfen, als dieser aus Empathie zu seiner sterbenden Mutter die Armut wegzuflunkern versucht. Regelrecht sinfonisch entwickelt Schreiner die in seinem Stück zentrale Szene weiter.
Griegs musikalischer Kosmos verstummt hier – vor allem die sonst zahlreichen Nummern aus der so romantisch wie ergreifend mächtigen, ehemals eigens zu Ibsens Drama komponierten Musik, die dem Ballett unterlegt sind. Emily Yetta Wohl, Interpretin der Mutter, erhebt sich von ihrem Totenbett. Das Orchester unter Leitung von Michael Brandstätter erschafft aus den Noten zu „Oceans“ der zeitgenössischen isländischen Komponistin María Huld Markan Sigfúsdóttir einen sich zart im Raum entfaltenden Klangteppich. Nach und nach tauchen quasi unbekleidete Tänzerinnen und Tänzer auf. Es bildet sich eine Gruppe um die Mutter, eine andere nimmt Peer in ihre Mitte. Peers berührender Abschied von Ǻse ist an diesem Abend das sinnfälligste Bild. Die Gruppe verschwindet. Peer hebt eine Leblose mit seinen Armen in die Höhe. Wieder am Boden geht Emily Yetta Wohl einfach nach hinten ab.
In ähnlich geglückter Weise handelt Schreiner die gesamten fünf Handlungskomplexe seiner Story ab – wie die Kindheitsgeschichte im Dorf mit Ingrid und mit Aslag oder das animalische Bild mit den Trollen, die bei ihm – choreografisch sehr ausgefallen fantastisch – eine Art hyperflexibler, knochenloser Vogelscheuchen sind. An der marokkanischen Küste begegnet Peer dann einer Bande schnieke herausgeputzter, aufgeblasener Männer. Die Gelegenheit, sich tänzerisch virtuos zu kaprizieren, schlachten Schreiners acht Akteure fabelhaft aus.
Die Gefahr, ins allzu Plakative oder gar Peinliche abzurutschen, wird von Schreiner konsequent und bravourös umschifft. In seinem quasi animalischsten Bild mit den Trollen sind diese eine Art Puppen beziehungsweise Vogelscheuchen – tänzerisch ganz fabelhaft, nahezu knochenlos und überhaupt nicht tollpatschig-banal dargestellt von Kompanieneuzugang Gjergji Meshaj als Trollkönig und dessen Tochter (Yunju Lee). Sogar der inszenatorisch heiklen Begegnung mit Anitra verleiht Schreiner Doppelbödigkeit, indem er die erotische Partie der – flankiert von ihren Schwestern im glitzernden Body – allen bis hin zum Knopfgießer den Kopf verdrehenden Frau fatale erst mit jazzigem, dann bewegungstechnisch verführerisch fluiden Duktus der Solveig-Protagonistin Marta Jaén Garcia anvertraut. Dass Peer am Ende Zeit für ein finales, liebevoll-zärtliches Duett und Aufschub vom Tod erhält, passt wunderbar zu seinem weniger narzisstisch als schelmenhaft herausgearbeiteten Profil. Schreiners „Peer Gynt“ ist großes Theater und als Ballett in Struktur wie Stringenz sein Münchner Meisterstück bislang.