Die Flammen mit den Augen hören
Das Opernhaus Zürich präsentiert die Schweizerische Erstaufführung von Helmut Lachenmanns Oper “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern”, von Christian Spuck zum ersten Mal als Ballett inszeniert. Ein eiskalter Abend, der nicht kalt lässt.
Christian Spuck setzt auch diesmal auf sein bewährtes Team: Emma Ryott (Kostüme), Rufus Didwiszus (Bühnenbild) und Martin Gebhart (Licht). Aber “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern” ist noch dunkler, noch kälter, noch trister als seine gefeierte “Winterreise” – und choreografisch ausgereifter und spannungsreicher.
Die berühmte Komposition von Helmut Lachenmann (UA 1997 in Hamburg) ist anspruchsvoll. Mit Textfetzen und Geräuschen – Ritsch! ein Schwefelholz fängt Feuer! – schrillen Stimmen und Radioeinsprengseln illustriert die Musik das himmeltraurige Märchen von Hans Christian Andersen nicht, sondern ruft einen Zustand von Kälte und Verlassenheit hervor. Die Basler Madrigalisten sowie die Philharmonie Zürich unter der Leitung von Matthias Hermann besetzen nicht nur den Orchestergraben, sondern auch die Logen im ersten und zweiten Rang. Die Töne kommen von überall her und werden von den Tänzer/innen auf der Bühne mit Ronds de Jambes und Battements weitergeschleudert oder – freeze! – zu Posen gefroren, bei denen sich die Kälte bis in die gespreizten Hände zeigt. Mit den Ohren sehen solle man seine Musik, sagt Lachenmann; mit den Augen hören, ergänzt Spuck. Und das gelingt ihm – dank seiner großen und großartigen Compagnie, die in den letzten Jahren mit ihm künstlerisch enorm gereift ist.
Allen voran: Michelle Willems. Sie tanzt das arme, frierende Mädchen aus dem Märchen: anmutig und schwerelos, wenn sie ihre Visionen von warmen Stuben und Gänsebraten hat, aber auch wild, wenn sie zündelt und sich wärmt, statt die Streichhölzer zu verkaufen.
Auch wenn das Kind am Schluss doch stirbt oder mit ihrer Grossmutter «in Glanz und Freude» zu Gott fliegt, ist er doch da, der Akt des Aufbegehrens. “Entweder du vernichtest dich selbst oder du vernichtest andere”, schreibt die Doppelgängerin des Mädchens (Emma Antrobus) an die Wand. Ein Zitat von Gudrun Ensslin, die mit den Lachenmann-Geschwistern, allesamt Pfarrerskinder, zur Schule ging, bevor sie als RAF-Terroristin 1968 ein Kaufhaus in Frankfurt anzündete, Bomben legte und sich 1977 im Gefängnis das Leben nahm. Für Helmut Lachenmann ist sie eine verformte Variante des Mädchens aus dem Märchen und er verwendet Zitate aus ihren Briefen. Spuck lässt Katja Wünsche als Gudrun Ensslin im 70er-Minirock auftreten, die Arme schützend vor die nackte Brust gelegt, den Stiefel auf den Kopf eines bösen Clowns gestellt, und sie “Verrecken im Widerspruch” schreiben. Das sitzt.
Lachenmanns Musik und politische Aussage ist zeitgenössisch, doch Spuck – und vor allem Emma Ryott – lassen es sich nicht nehmen, auch das 19. Jh. defilieren zu lassen. Das Corps de ballet in Fräcken und voluminösen Röcken, versunken in ihren Pas de Deux’, gibt die bürgerliche Gesellschaft, die weder Augen noch Herz hat für das arme Kind. Der Junge, der ihm einen Pantoffel stiehlt, tritt als Horde von Schulbuben auf und plagt es. Ihre Uniformen und Schaukelpferdchen könnten Relikte aus Spucks “Sandmann” und “Nussknacker und Mausekönig” sein. Diese “alte” Welt der Kindermärchen kontrastiert und durchsetzt er mit gut choreografierten Sequenzen aus der “modernen” Erwachsenenwelt: Dem barfüssigen Mädchen stellt er “Schneeflocken”-Tänzerinnen auf Spitze gegenüber, die diesem unerbittlich klassische Schönheit und Virtuosität vorführen, oder Tänzer, entweder halbnackt oder gänzlich schwarz maskiert, die es emporheben, ihm Halt und Wärme geben oder es in die andere Welt entführen. Ganz auf den Himmel und den Reigen der Seligen verzichten, mag man dann doch nicht.
Am eindrücklichsten ist, als Lachenmann selbst auf der Bühne steht und einen Text von Leonardo da Vinci über die Furcht vor und das Verlangen nach dem Tod rezitiert – in Silben zerlegt, sodass man kaum etwas versteht. Aber das Corps de ballet macht mit stakkato artigen Gesten den abgehackten Text sichtbar und mit einem wunderbar fliessenden Pas de Deux machen Katja Wünsche und William Moore ihn spürbar, den sanften Übergang…
Der Funke mag nicht bei allen im Publikum gesprungen sein: zu viele ungewohnte Töne, krasse Bilder und deutliche Worte – und vor allem auch ein politischer Unterton, vor dem viele die Ohren lieber verschliessen. Aber die Anerkennung für die gewaltige Leistung der Tänzer/innen, Sänger/innen und Musiker/innen war nicht zu überhören/-sehen.
Evelyn Klöti