Johan Ingers preisgekrönte Kreation als deutsche Erstaufführung beim Semperoper Ballett in Dresden.
„Carmen“, das ist nicht nur die Oper von Georges Bizet, die das Publikum anzieht, „Carmen“ das ist auch ein Stoff für den Tanz, für das Ballett. Nach der literarischen Vorlage von Prosper Mérimée schuf schon Marius Petipa 1845 sein Ballett „Carmen et son Toréro“. Bekannt wurde die Choreografie von Roland Petit für seine Frau und Muse, der Tänzerin Zizi Janmaire, zur Musik von Bizet, auch als Film. Zu zeitgenössischer Musik von Wolfgang Fortner brachte John Cranko seine Ballettversion mit Marcia Haydée heraus. Es gibt weitere Choreografien, u.a. von Mats Ek und dem früheren Dresdner Hauschoreografen Stephan Thoss. Am Moskauer Bolschoi-Ballett schuf Alberto Alonso ein Ballett für Maja Plissezkaja, ihr Mann Rodion Schtschedrin schrieb dazu die „Carmen-Suite“, in der er Bizets Musik raffiniert mit Zusätzen vieler Schlagwerkinstrumente in starker, tänzerischer Rhythmik in neue Klangdimensionen überführt.
Diese Komposition verwendet auch der schwedische Choreograf Johan Inger für seine Carmen Choreografie, seinem ersten Handlungsballett, und er fügt eigens geschaffene Kompositionen von Marc Álvarez hinzu, die mit elektronischer Soundkunst im spannenden Dialog mit Bizets Motiven auch klangliche Elemente vergegenwärtigen. Ingers „Carmen“ wurde 2015 in Madrid, von der Compañía Nacional de Danza uraufgeführt. Ein Jahr später gab dafür den „Oscar“ der Ballettwelt, den begehrten Prix Benois de la Danse in Moskau. Jetzt brachte das Semperoper Ballett „Carmen“ in einer stürmisch gefeierten Premiere als deutsche Erstaufführung heraus. Inger und sein Dramaturg Gregor Acuña-Pohl auf der Bühne von Marc Álvarez mit den Kostümen von Curt Allen Winter, im Licht von Tom Visser, gewinnen dem Stoff um die junge Arbeiterin Carmen mit ihrem unbändigen Freiheitsdrang noch einmal ganz neue Möglichkeiten ab. Die neue Dresdner Produktion ist ein Gesamtkunstwerk. Da ist die Dimension des Klanges. Die Staatskapelle spielt unter der Leitung von Manuel Coves. Die Musik beginnt bei Licht im Opernhaus. Das Publikum wird abgeholt, eingeführt und dann auch kraft des Spiels der Musiker verführt, auch dazu, sich einzulassen auf die Zuspielungen der benannten Komposition, wobei die Übergänge vom Livespiel zum elektronischen Sound kaum vernehmbar sind. Johan Inger folgt nicht nur der originalen Handlung, deren Motive in geschickter Auswahl aufgenommen und dennoch verändert werden. Er fügt auch eine Person hinzu. Das ist ein Kind, ein Junge, getanzt von Anna Merkulova, die aber für keinen Moment in unangemessene Kindlichkeit abgleitet. Vielmehr nimmt sie in beindruckender Bewegungssprache zunächst eine beobachtende Funktion ein. Es ist möglich, dass sie es ist, die dann diese immer wieder agierenden dunklen, gesichtslosen Gestalten beschwört um zu begreifen was sich dann in dieser Abfolge von Missverständnissen und Gewalt, der niemand entfliehen kann, vollzieht.
Schon bald ist Don José auf der Szene mit den neun säulenartigen Konstruktionen, die sich zur Wand, zur Mauer fügen können, durchlässig oder nicht, die Licht geben, oder das Geschehen spiegeln, Realität immer wieder in die Irrealität führen. Jón Vallejo als schüchtern wirkender Don José ist angezogen von der so zierlichen und doch so starken Carmen, getanzt von Ajaha Tsunaki. Auch er fällt aus der Realität in gewünschte Traumwelten. Aus der Blume, die Carmen ihm zuwirft, wird ein Blumenregen. In seinem ersten Solo gestaltet er einen Kampf gegen sich selbst. Wenn er in neunfacher Spiegelung später unbewegt und in erstarrter Reglosigkeit erlebt, in welche Räume der Freiheit sich Carmen zu tanzen vermag, kann Vallejo auch nur ohne kleinste Bewegung vermitteln, welche Kämpfe in ihm toben. Wenn er derer nicht mehr Herr ist, wird er zum Mörder. Wenn sich Carmen Joseph Hernandez in der Rolle des leichtlebigen Offiziers Zuniga zuwendet sticht José zu. Und immer beobachtet Anna Merkulova, das Kind, der Junge, wie eine Gewalttat die nächste gebiert, ein Missverständnis das nächste hervor bringt, die Macht der schwarzen Gestalten immer stärker wird. Im zweiten Teil dann so etwas wie eine Schlüsselszene dieser Deutung von Johan Inger.
Don José im einsamen Wahn der Eifersucht dringt brutal auf Carmen ein, das Kind hält ihn zurück. Für einen Moment Stillstand. Dann verwandelt sich die Situation der Gewalt in ein tänzerisches Trio versöhnlichster Visionen: Vater, Mutter, Kind im trauten Tanz. Es bleibt eine Vision. Die Gewalt lässt sich nicht stoppen. So wie Carmen in einer aufwühlenden Szene dieser nicht entfliehen kann, so kann José nicht vor sich selbst fliehen. Wenn er zwischen den irrlichternden Teilen der Bühne Carmen verfolgt, sie ermordet, das Kind zurück bleibt mit seiner Puppe, die es in Stücke reißt, dann liegt man nicht ganz falsch, wenn einem die Schlussszene aus Büchners „Woyzeck“ in den Sinn kommt. Dass aber Johan Ingers Choreografie bei höchsten tänzerischen und darstellerischen Ansprüchen von einer solchen Wirkung ist, wie man sie so oft nicht im zeitgenössischen Ballett erlebt, das liegt vor allem an der grandiosen Leistung der Mitglieder des Semperoper Balletts in allen Rollen dieser Kreation. Und mit Jón Vallejo hat man in dieser besonderen Interpretation des Stoffes, den man bislang vielleicht zu kennen meinte, einen Tänzer, der es vermag die Gewalten innerer Bewegtheit in die Kunst individueller, tänzerischer Bewegung zu führen, wie man es wirklich selten erlebt. Das Dresdner Ballettrepertoire ist um einen Höhepunkt reicher.
Boris Gruhl