Interview und Nachkritik
Wim Vandekeybus, dessen impulsiv-rabiater Tanzstil seit Gründung seiner Extremtanztruppe „Ultima Vez“ 1986 manch jüngeren Kollegen geprägt hat, ist kein Unbekannter in München. Immer wieder war der Belgier an der Isar zu Gast – sei es bei der Tanzwerkstatt Europa oder im Rahmen der Biennale Dance wie zuletzt 2017 mit „Mockumentary of a contemporary saviour“. Nun bündeln seine Kompanie und das Residenztheater für eine Uraufführung im Cuvilliés-Theater erstmals ihre Kräfte bei „Die Bakchen – Lasst uns tanzen“ von Peter Verhelst nach Euripides.
Herr Vandekeybus, was reizt Sie als Choreograf an einer Schauspiel-Inszenierung?
Dass es für mich etwas Neues ist. In über 30 Jahren habe ich viele Filme und um die 35 choreografische Arbeiten gemacht. Bei dieser Produktion fühle ich mich frei von dem Druck des Gefühls, mich womöglich zu wiederholen. Genau aus diesem Grund schätze ich die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern.
Sie haben Dijf Sanders als Komponisten und mit Vincent Glowinski einen Maler mit ins Boot geholt. Was erwartet das Publikum?
Das Nachexerzieren klassischer (Theater)Formen sagt mir nicht zu. Es bringt uns nicht weiter. Ich hoffe, uns gelingt es, diese antike „Hippie“-Geschichte über Rache, Emanzipation und die Befreiung von Angst angesichts von Veränderung auf eine ungewöhnlich neue Art zu erzählen. Allein schon Vincent mit seiner komplett anderen Denkweise verändert den gesamten Kreationsprozess.
Mein nächster Gedanke war, keinen vorproduzierten elektronischen Sound zu verwenden, sondern einen guten Live-Musiker dazu zu holen. Der kann auf der Bühne aktiv auf die Schauspieler, Tänzer und Vincents Live-Painting reagieren. Dijf, der sich viel mit den Klangwelten indonesischer Stämme beschäftigt hat, wird verschiedene Instrumente spielen.
Das hört sich sehr atmosphärisch an…
Manchmal wird es auch richtig laut. Dionysos hat die Leute in seiner Gewalt, weil er sie um den kleinen Finger wickeln und in einen Zustand bringen kann, in dem sie keine Angst mehr kennen, sich quasi wie unter Drogen öffnen. Am Ende wird man den Eindruck haben, das Ganze war ein gigantischer Trip. Grausam. Ein sexueller (Alb)Traum.
Bleiben Rollen und Plot erhalten?
Auf jeden Fall. Die Schauspieler übernehmen die Charaktere Pentheus (Till Firit), Dionysos (Niklas Wetzel), Agaue (Sylvana Krappatsch), Teiresias (René Dumont) und Kadmos (Wolfram Rupperti). Aber Dionysos ist eine Gottheit, die sich gern in fremden Körpern verbirgt. Meine Tänzer interpretieren vornehmlich die Bakchen, können aber auch Teil des Palasts, zu Pentheus Gefolge oder sogar Dionysos selbst werden. Die Story steigert sich langsam über 90 Minuten hinweg.
Sie haben den flämischen Dramatiker Peter Verhelst mit einer Neubearbeitung des Texts beauftragt. Warum?
Agaue beispielsweise hat im Original nur am Ende eine Stimme. Dann, wenn sie ihren Fehler erkennt. Ich aber wollte sie von Anfang an im Stück präsent haben, ihre Rolle zeigen und sie sprechen lassen. Peter war bereit, der Struktur der Vorlage treu zu bleiben. Gleichzeitig zählt er zu jenen Autoren, die nicht einfach beschreiben, was man sieht. Er geht metaphorisch vor. Spannend, wenn der Ballast szenischer Beschreibungen wegfällt, der Text nicht länger informative Funktion hat und zum eigenständigen Modul neben Musik, Malerei oder Tanz wird. Einzelne Zutaten, die nie eins sind, sich aber permanent wie ein Räderwerk verzahnen.
Werden sich die Aufführungen unterscheiden?
Ja, was Vincent Glowinski betrifft. Er hasst es, sich vorab festzulegen und entwickelt seine visuelle Kunst aus dem Augenblick heraus. Unsere Arbeit ist ein organischer Prozess. Dennoch bleibt jede Vorstellung ein Gig – für den Musiker ebenso wie für den Maler. Es ist ihre erste Zusammenarbeit!
Wie darf man sich die Bühne vorstellen?
Wir beginnen sozusagen mit einem weißen Blatt Papier.
Es gibt keinerlei Dekor?
Doch – aber am Anfang ist alles weiß. Ich habe Vincent gebeten, uns alles Notwenige zu malen. Und auch vor den Darstellern nicht Halt zu machen. Das Live- und Bodypainting ermöglicht den Figuren, sich in etwas anderes zu verwandeln. Wobei das Geschlecht meiner Meinung nach nicht wirklich von Bedeutung ist.
Mögen Sie den Premierenort?
Ich finde das Cuvilliés-Theater gar nicht so schön. Das Ambiente unterscheidet sich total von unserer Arbeit. Der Kontrast zwischen Bühne und Zuschauerraum ist gigantisch. Letztendlich gefällt mir aber, in diesem Rokokotheater zu spielen. Schließlich beinhalten gerade Euripides „Bakchen“ mit ihren Fraktionen der Götter, Menschen, Frauen, Männer, Anführer und Anhänger enorm viele Gegensätze.
Kunst am Stück
„Die Bakchen – lasst uns tanzen“ in Regie und Choreografie von Wim Vandekeybus im Münchner Cuvilliés-Theater. Premiere 15.3.2019
Ein weißer Palast aus sich auftürmenden Kanten und Schrägen. Davor neigt sich ein Plateau der Rampe entgegen. In Wim Vandekeybus’ körperbrachialer und kolossal bildgewaltiger Adaption von Euripides antikem Versdrama „Die Bakchen – Lasst uns tanzen“ verläuft die Grenze des Königreichs Theben genau hier: zwischen abstrakter Bühne und rotgoldverziertem Zuschauerraum.
Besonders deutlich empfindet man das, wenn Agaue (großartig spröde in ihrem Wahn: Sylvana Krappatsch) als Mörderin des Herrschers und eigenen Sohns Pentheus nach psychedelisch-zügelloser, blutrünstiger Raserei ins Parkett des Cuvilliés-Theaters hinabgehievt und gnadenlos abgeschoben wird. Zurück bleiben der blinde Seher Teiresias (René Dumont) und Vater Kadmos (Wolfram Rupperti). Agaues Schmerz katapultiert den Zuschauer aus seiner Neutralität als bloßer Betrachter heraus, macht ihn unmittelbar zum Zeugen der sich unaufhaltsam zusammenbrauenden Katastrophe.

Regie + Choreographie + Bühne: Wim Vandekeybus,
v. l. Sylvana Krappatsch, Vincent Glowinski
Deren kultischer Ursprung sind Zustände des Rausches. Dafür hat Vandekeybus mit seinen Interpreten wunderbare choreografische Eingangsimpressionen aus neuartigen Hebungen, Würfen und Drehungen für verschiedenste Paarkonstellationen gefunden. Windschnell dreht sich ein Mann um sich selbst und hält die im Schwung gepackte Frau wenige Zentimeter vor sich in den Händen. Zugegriffen wird impulsiv. Bald auch gewaltsam und krude. Dionysos selbst in seiner menschlichen Gestalt greift Agaue unmissverständlich zwischen die Beine. Und lässt sie dann quer zu seinen Hüften durch die Luft schweben. Drastisch entrückt. Toll! Nichts für zimperliche Gemüter.
Die Ekstase der Mänaden am Ende, die sich dank Drehbühne in einem waldigen Hinterland aus Gerüstgestänge abspielt, kennt keinen Halt. Sie zerren den unkenntlich bemalten Pentheus vom Ast. Till Firit lebt den Skeptiker aus Verantwortung, der Veränderungen scheut, großartig aus. Erst versucht er, die Kritzeleien auf den Mauern mit weißer Farbe wieder zu tilgen. Als ihm Dionysos beim Gefecht der Argumente den Finger lutscht, willigt er schließlich ein, sich selbst ein Bild von dem triebhaften Treiben vor den Toren seines vormals blitzblanken Palastgeländes zu machen.

Pentheus zu zerfetzten, beansprucht Zeit. Am Ende steht nur mehr die Mutter da – siegesgeil den farbverschmierten Kopf fest unter ihre Achsel geklemmt. Hinter ihr strahlt Dionysos unter Schichten von Ockergelb. Doch sein Triumph ist kurz. Mitten im Wort sinkt er zu Boden – gefällt von den eigenen Gefolgsleuten. Die klettern eilig davon – über den Turm aus Stangen, in dem sie gerade noch Pentheus, ihr ausgeweidetes Opfertier, aufgehängt haben. Das hat Open-End-Dimension.
Vandekeybus’ „Bakchen“ reißen einen mit. Dichte 90 Minuten lang. Emotional bedachtsam gelenkt von einer Fülle physischer und lautmalerischer Ausdruckskraft, die die fünf rollentragenden Schauspieler, zwei Tänzerinnen (Zoe Gyssler, Aymara Parola) und zwei Tänzer (Horacio Macuacua, Borna Babić) fortwährend zu markanten Eindrücken verbinden. Immer hautnah dran am Geschehen, das in Peter Verhelsts auf wenige intensive Dialoge und Monologe verknappter Textneufassung überaus wirkungsvoll vor allem eines ausstellt: das schmachvolle Versagen einer in Umbruchsituationen desorientierten Familie. Ob Agaue, Pentheus oder Dionysos (Spross von Semele, Agaues Schwester mit Zeus, an die niemand in der Stadt mehr denken mag) – sie reflektieren am liebsten über sich selbst. So rückt das von Residenztheater und Vandekeybus’ Kompanie Ultima Vez koproduzierte Stück einem richtig auf die Pelle. Und unterscheidet sich herrlich von Dieter Dorns vorheriger, 2005 nicht minder grausamer, dabei ganz textbasierter Inszenierung.
Die Tragödie beginnt mit den Geburtsqualen der Mutter. Zupackende Hände entreißen Pentheus ihrem Leib. Er greint, zusammengefaltet am Boden. Agaue hockt apathisch am Rand. Es bedarf keiner chorischen Erklärungen. Den Keim für seinen vernichtenden Rachefeldzug hat der Dionysos längst gelegt.
Hinter Agaue ragt eine riesige Steilwand – das Bergmassiv Kithairon – in die Höhe. Die perfekte Aktionsfläche für den französischen Street-Art-Künstler Vincent Glowinski, der sich mitsamt Malutensilien abseilt. Er ist Dionysos’ omnipräsentes, für den visuellen Rausch in dieser Produktion verantwortliches Alter Ego. Aus seinen Strichen erwachsen nach und nach beispielsweise Gebirge, die sich in Gesichter verwandeln. Allein sein Action-Painting macht die Aufführung zum Muss. Wer will, findet überall symbolische Querverweise. Begleitet von fernöstlichen Klängen, die Live-Musiker Dijf Sanders ausgebauten Pianosaiten und einer Zitter entlockt. Später entladen sich diese in gewaltigen elektroakustisch verstärkten Soundclustern. Er darf aber auch, eine exotische Kürbisflöte blasend, in die Rolle der Semele schlüpfen. Für ein kurzes, sich tänzerisch umkreisendes tête à tête mit Agaue.
Die Entdeckung des Abends ist der junge Niklas Wetzel als Dionysos. Ein nach Abschluss an der Münchner Otto Falckenberg Schule sogleich ans Deutsche Theater Berlin engagierter Leonardo-DiCaprio-Typ. Wenn er sich im Duett mit einem Tänzer bewegt, überzeugt dies ebenso wie die Worte, mit denen er sein Gefolge in Bann schlägt.
Vesna Mlakar
Nächste Vorstellungen: 27., 29., 30.3., dann wieder im April. Karten: 21851940