Ksenia Ryzhkova und Emilio Pavan in 'Onegin' Ch. John Cranko Foto Wilfried Hösl
Kritiken

Bayerisches Staatsballett: Crankos „Onegin“ neu besetzt – eine Zwischenbilanz zur Vertragshalbzeit von Ballettdirektor Igor Zelensky

„Onegin“ von John Cranko gehört zu den seltenen Abendfüllern auf der Tanzbühne, die sich in ihrer Wirkungskraft wohl niemals abnützen. Vielleicht hat Ballettchef Igor Zelensky gerade deshalb – exakt zu seiner Vertragshalbzeit – eine Wiederaufnahme angesetzt. Nach nur einem Jahr Pause, dafür mit intensiven Proben für gleich mehrere nachrückende Besetzungskandidaten.

An den ersten beiden unmittelbar aufeinanderfolgenden Vorstellungen (1., 2. März) ließ sich exemplarisch ablesen, worauf Zelenskys Ensemblepolitik zur Entwicklung einer international konkurrenzfähigen Elitekompanie mit erkennbarem Eigenprofil abzielt. Seit Spätsommer 2016 wird im Repertoire vor allem geschätzt, was Kasse macht. Und warum auch nicht. Angesichts eines „nur“ opernliebenden Intendanten Nikolaus Bachler stärkt ein voller Zuschauerraum beim Ballett dem Tanzensemble schließlich den Rücken. An Beliebtheit hat das Ballett in München mit seinen stets ausverkauften Vorstellungen längst mit der Sparte Oper gleichgezogen!

Bedient werden müssen allerdings noch mehr Aspekte, zumal beim Bayerischen Staatsballett eine neue Tänzergeneration heranwächst, die hart an sich und dem Repertoire arbeitet. Ob „Spartacus“ (der auch sonst eher ballettträge (Ehe-)Männer anzulocken vermag), John Crankos Meisterwerke „Romeo und Julia“, „Der Widerspenstigen Zähmung“ (soeben neu besetzt mit einer fabelhaften Laurretta Summerscales an der Seite ihres Gatten Yonah Acosta) und „Onegin“, romantische Klassiker à la „Raymonda“, Wayne McGregors zeitgenössisch-bildgewaltiges Triple Bill oder Balanchines dekorativer Schmuckdreiteiler „Jewels“: Die Tänzer sollen sich mit jedem neu aufgenommenen Werk weiterentwickeln.

Bewusst werden namhafte Gastsolisten regelmäßig in die Aufführungen eingebunden. Andererseits gestattet Zelensky immer mehr Tänzern – auch aus dem derzeit 21 Frauen und 15 Männer starken Corps de ballet –, sich in verschiedenen tragenden Rollen der zehn aktuellen Produktionen der Saison zu beweisen. Das ist wichtig, um die zu puschen und im Ensemble zu halten, die weiter kommen wollen – aber auch, weil trotz anspruchsvollem Spielplan momentan nur zwei feste Erste Solistinnen (die dritte, Ivy Amista, hat eine Babypause eingelegt), vier Erste Solisten sowie je vier Solistinnen und Solisten (wobei Jinhao Zhang verletzungsbedingt bislang ausfiel) bereit stehen.

Fluch und Segen, wenn wenige vieles zu stemmen haben. Sind allerdings viele sehr gut (was sich bereits nachhaltig abzeichnet) wird der Schrei nach mehr Vorstellungen auf Tänzer- wie Publikumsseite immer virulenter. Mit dem nüchternen Format öffentlicher Probendurchläufe (fast) vollständiger Werke auf der Bühne des Nationaltheaters und einem Training on stage (alle Termine bereits ausverkauft) arbeitet sich Zelensky langsam vor. Tatsächlich können Interpreten, egal wie hart sie trainieren, erst auf der Bühne wirklich an einer Partie wachsen.

Gut zu beobachten war dies bei Ksenia Ryzhkova. Nach ihren Erfahrungen der ersten Male verkörperte sie die anfangs stille und verträumte Tatjana in Crankos „Onegin“ diesmal unglaublich gereift. Nicht nur anhand des Schrittvokabulars, sondern auch mit klar formulierten emotionalen Regungen trieb sie das Geschehen voran. Den persönlichen Schlusskonflikt einer einst heftig gedemütigten Frau, deren erste Liebe nie richtig erlosch, tanzte sie mit heftig schmerzzerrüttetem Gesicht ergreifend aus. Purer Gefühlschmerz, gewürzt mit einer flüchtigen Passage wiederaufflammender Leidenschaft. Was für eine junge Künstlerin: aufwühlend wahrhaftig!

Eröffnen durfte sie die Aufführungsserie erstmals an der Seite von Gast-Principal Vladimir Shklyarov. Als akribisch-facettenfreudiger Rollengestalter glänzte sein erst dritter Onegin absolut typ-vollendet. Explosiv seine Auseinandersetzung mit dem wieder exakt-innigen Jonah Cook als Lenski. Man konnte Olgas (Laurretta Summerscales) übermütiges Einlassen auf Onegins unverschämte Flirtavancen nachvollziehen – bei zwei so prächtigen Partnern.

Gecoached wurde das Bayerische Staatsballett erstmals von Reid Anderson, dem Stuttgarter Ex-Ballettintendanten. Weil Cranko in beiden Städten Spartenleiter war, teilt man sich die unbefristeten Aufführungsrechte an der choreografisch dicht und von humorvoll bis hochdramatisch in sechs Bildern (Ausstattung: Jürgen Rose) erzählten Geschichte nach Puschkins Versepos (Musik: Peter Tschaikowskys in der Bearbeitung von Kurt-Heinz Stolze).

Sein Versprechen, Münchens Tanzerbe auf Hochglanz zu polieren, hat Zelensky aufs Neue gehalten. Selbst flüchtige Details im sich aufschaukelnden Zusammenspiel zwischen Ensemble und Protagonisten wurden frisch herausgearbeitet. Keine Spur von verstauber Routine. Es wird technisch geklotzt und gespielt, was das Zeug hält. Egal, wohin man sieht.

Lauretta Summerscales & Johnatan Cook in ‚Onegin‘ Ch. John Cranko Foto Wilfried Hösl

Niemals aber hätte man Osiel Gouneo (Onegin) und Laurretta Summerscales (Tatjana) auf Anhieb ein derart perfektes Debüt zugetraut. Im Traum von Onegin begehrt, fliegt das Mädchen dem abgründigen Mann bei den schwierigsten Hebungen nur so um die Ohren. Der Glücksgefühlbogen gelingt – sogar noch besser als am Vorabend. Verblüffend mühelos hat Summerscales die hübsche Oberflächenpatina ihrer Olga tags zuvor abgelegt. Diese finden wir nun bei Elvina Ibraimova (Debüt im Anschluss an eine Serie als Alice) wieder – an der Seite des eleganten Alexey Popov, der als Lenski ruhig mehr aus sich herausgehen könnte.

Summerscales Tatjana wird zum genialen Wurf. Natürlich schmettert Onegin – jetzt mehr gelangweilter Lebemann denn verkopfter Fiesling – ihre Liebe ab. Die in den Körper eingravierte Erkenntnis, falsch gehandelt zu haben, zeichnet Gouneos überraschende, dabei schlüssige Umsetzung der Figur ab dem Duell aus. Tatjana hat er an den wunderbaren, feinen Fürsten Gremin (Rollendebüt: Matteo Dilaghi) verloren. Am ersten Abend ist das dem Publikum acht Solovorhänge für Ryzhkova/Shklyarov wert.

Igor Zelensky, Foto Bayerische Staatsoper

Was jetzt noch kommen muss, sind Uraufführungen. Abhilfe könnte der für die Juni-Premiere „A jour“ verpflichtete, in Wien lebende Andrey Kaydanovskiy schaffen. Gewiss ein großes Talent. Oder es erkennen immer mehr Choreografen, dass ihnen mit dem Bayerischen Staatsballett nicht nur eine pfiffige klassische Kompanie zur Verfügung steht, sondern ein vielseitiges Instrument junger, flexibler, einsatzbereiter Spitzenkünstler. Der eingeschlagene Weg ist stimmig und sollte mit Igor Zelensky fortgesetzt werden.

Vesna Mlakar

Nächste Vorstellung von „Onegin“ am 13. April in Starbesetzung mit Natalia Osipova (sie tanzt die Rolle erstmals in Bayern) und David Hallberg (Hausdebüt) in den Hauptrollen.