Tanz um die Sehnsucht nach Erlösung
Auf stilisiertem grauen Chorgestühl, das nach oben hin steil ansteigt, sitzen sie, die Choristen und Solisten vom Nordharzer Städtebundtheater. Das Licht innerhalb der Bänke verleiht Verena Hemmerleins Szenerie inmitten der ansonsten schwarzen Aushängung etwas Magisches, Geheimnisvolles. Das Gestühl teilt ein Gang in die Unendlichkeit. Er wird für die vier Tänzerinnen und drei Tänzer der Halberstädter Compagnie eine Stunde lang der erstrebte Weg aus dem Irdischen in eine andere Welt sein. Nicht ohne Grund hüllt die Ausstatterin sie in violette, ornamental applizierte Ganztrikots, gilt diese Farbe doch als Symbol für das Mystische, Unterbewusste und für Spiritualität. Denn genau um sie dreht sich Can Arslans Inszenierung. Mutig genug wagt er sich an eines der größten und beliebtesten Werke der Musikliteratur, Mozarts „Requiem“, entstanden im Todesjahr das Komponisten, von ihm nur zu Teilen endverfertigt, ein Torso, dem im Auftrag von Frau Constanze Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr die heute gängige Form gab. Was davon wirklich vom Salzburger Meister stammt, ist nach wie vor umstritten.
Can Arslan, in der vierten Spielzeit Ballettchef am Verbundtheater, nimmt als Basis seiner tänzerischen Umsetzung jene Süßmayr-Version und ist klug genug, sich auf keine textgenau erzählerische Lesart einzulassen. Vielmehr geht es ihm um das Ringen menschlicher Seelen nach Erlösung, sei sie in der Hingabe an Gott zu finden oder im finalen Lebenszweck, dem Tod. Wirken die Tänzer anfangs in ihren bemalten Mänteln wie bunte Zugvögel, so „häuten“ sie sich rasch und verzehren sich unverstellt in ihren inneren Kämpfen. Der Körper kann sich da nicht mehr verstecken. Arslan entwirft für sie eine abstrakte Bewegungssprache, reich an individuell deutbarer Armgestik, ob ruckhaft, gebunden, mit gespreizten Fingern oder flatternden Händen. Dabei korrespondiert die tänzerische Besetzung oft mit der musikalischen Struktur, als Solo, Duo oder Trio für die Gesangssolisten, als Gruppe für den Chor.
Immer wieder geht es darum, den Mittelgang als Pfad in die Seligkeit zu erklimmen, immer wieder rutschen die Ausbrechenden zurück zum Menschenpulk. Aus ihm lösen sich Einzelne in ihrem Leid, Andere umarmen sie, schmiegen sich an und spenden Trost. Wieder Andere verbergen ihr Gesicht hinter den Händen, als wollten sie sich verstecken. Zeichen für ein latentes Sünderbewusstsein? Zwei Männer verbindet gar ein stummer Schrei, ehe eine Frau mit einer schwarzen Stange hinzutritt und die beiden in ein Quartett mit dem Stab verwickelt. Er wird hier, im „Lacrimosa“, zur Kreuzeslast, die Frau, gehoben, für einen Moment zur Mutter, die selbst am Kreuz hängt. Eines der eindringlichsten Bilder des Abends.
Wenn die Tänzer in der Lage ihre Köpfe übereinanderschichten wie ein vielhäuptiger Mensch, fühlt man sich an „Les Noces“ von Bronislawa Nishinska erinnert. Unter der Menge kriecht mit sehnender Hand Caterina Cerolini hervor. In seinem Solo zum „Sanctus“ gelingt Cristian Colatriano, präzis und mit starkem Ausdruckswillen, fast der Aufstieg über den Mittelgang. Ägyptisierende Flächigkeit in den Armen der Männer, verklammerte Beine der hingestreckten Frauen, schwenkende Reihen und ein zerrend gefasster Kreis sind nötig, bis im „Agnus dei“ die hoffnungslos Gestürzten von Masami Fukushima aufgerichtet werden. Liegend bilden sie auf dem Mittelsteg eine Art Pyramide – über sie schafft eine Frau den Aufstieg bis zur Schwelle. Wohin ihr Weg sie führen wird, bleibt offen. Wie engagiert das kleine Ensemble den Intentionen seines Choreografen und dem Klang des Orchesters unter Kari Kropsu tief im Graben folgt, auch das hat die Vorstellung im reizvollen Carl-Maria-von-Weber-Theater Bernburg sehenswert gemacht. Das 1827 als Herzogliches Schauspielhaus errichtete Gebäude ist heute reines Gastspieltheater und mit seinem variablen Programm allemal einen Besuch wert.
Volkmar Draeger