© Kiran West
Kritiken

Bewegende Hommage an „Die Unsichtbaren“

John Neumeier ehrt Verfemte des Nazi-Regimes

Auf dem Weg in den Theatersaal passiert man eine flächendeckende schwarze Tafel. Darauf stehen, alphabetisch gelistet, Namen von Ruth Abramowitsch bis Hans Züllig, um die 300 sind es. Die Menschen hinter den Namen waren Juden, denen die Nazis das Recht auf den Beruf, manchen gar auf das Leben verweigerten. In Tanz, Choreografie, Kritik hatten sie sich künstlerisch entäußert, hatten Wesentliches geleistet, das nach 1933 nichts mehr galt. Ausgegrenzt, inhaftiert, deportiert, emigriert, ermordet, hingerichtet – ein Wort beschreibt unter dem Namen das jeweilige Schicksal. Außer einer unheilbaren Krankheit könne einen jungen Menschen nichts Schlimmeres treffen als die unfreiwillige Emigration, wird Ernst Deutsch, prominenter jüdischer Schauspieler, auf den weiteren Wänden der Begleitausstellung zitiert. Und doch war es vielleicht noch das „angenehmste“ Los der Verfolgten. Vielen gelang nicht einmal mehr das. Ihnen, den Namhaften wie den heute Vergessenen, hat John Neumeier eine Tanz-Collage gewidmet, die mit 30 Vorstellungen in Hamburgs Ernst Deutsch Theater läuft und „Die Unsichtbaren“, so der programmatische Titel, ins Licht der Bühne und der Öffentlichkeit hebt.

In zwei Teilen mit insgesamt 16 Szenen gedenkt Neumeier einiger der Verfolgten und setzt ihr Schicksal ins Bild: weder als Betroffenheitsmemorial für die Opfer noch als Anklagetribunal für jene, die nicht emigriert sind und im Nazi-Reich irgendwie ihren Weg gefunden haben. Die Spezifikation als Collage weist darauf hin, dass „Die Unsichtbaren“ keine durchgängige Handlung besitzt. Und doch gibt es sowohl einen Rahmen als auch einen roten Faden. Den Rahmen bilden die durch zwei Gäste verstärkten acht Tänzer*innen des Bundesjugendballetts, die sich als spät Nachgeborene, demonstrativ Heutige auf jenes düstere Gestern einlassen. Den roten Faden bringt als Hauptexponentin des deutschen Ausdruckstanzes Mary Wigman ein. In Hamburg feierte die Tänzerin 1919 erste Erfolge, an die sie in einem Vortrag von 1940 erinnert. Überdies ist sie, die beredt Schreibende, Chronistin zur Geschichte des modernen Tanzes auch in der Nazi-Ära. Isabelle Vértes-Schütter schlüpft lesend und spielend in ihre Rolle, Louisa Stroux und Maximilian von Mühlen assistieren ihr in den Parts weiterer Zeitzeugen.

Isabella Vértes-Schütter als Mary Wigman
Ida-Sofia Stempelmann

Das 1937 übermalte Wandgemälde „Orpheus mit den Tieren“ der jüdischen, Ende 1933 in den Freitod gegangenen Hamburgerin Anita Rée begrenzt den Bühnen-Raum. Eng wie der Spiel-Raum, der den Verfolgten bleibt, ist er, mit meist verschlossener Mitteltür und Streulicht durch ein seitliches Fenster; links steht der Flügel, auf dem live vierhändig zu den einzelnen Bildern Teile aus Igor Strawinskys „Sacre du printemps“ erklingen. Auch dies, ergänzt durch weitere Kompositionen sowie eingespielte Titel vom Band, eine Collage.

Als Unbehauste mit Koffern ziehen die Akteure einzeln auf, ehe Jean Weidts bitterer Kommentar vom Emigrant-Sein zitiert wird.  Neumeier bricht die düstere Stimmung, indem er die Tänzer*innen sich teils witzig vorstellen, dann über Mary Wigman disputieren lässt. In Pelzmantel über dem schwarzen Abendkleid hält sie ihre Rede. Drei ihrer typischen Solochoreografien gestaltet Neumeier dazu in freier Nachbildung. Da stoßen sie aufeinander: die Nazi-Weisung zur Ausgrenzung von Juden, vom Tänzer als politischem Soldaten, vom Tanz als Rassenfrage und Wigmans Definition vom Tanz als Ekstase, als Ausdruck und Funktion. Verlesen wird auch der Brief einer Mutter, die vergebens die weitere Tanzausbildung ihrer halbjüdischen Kinder erbittet. Und immer wieder Etappen aus Wigmans Laufbahn. So Ascona, als Schülerin bei Laban, dem „Zauberer“ und „Priester“, was Neumeier Gelegenheit gibt, sich dessen weihevoll chorischen Gruppenchoreografien anzuverwandeln. Weltkrieg 1 beendet den Taumel, der Bühnen-Nebel des Geheimnisvollen wird zum Rauch der Kanonen. Flucht bleibt als Ausweg.

v.l.n.r.: João Vitor Santana, Thomas Krähenbühl, Pepijn Gelderman
Ida-Sofia Stempelmann
Giuseppe Conte als Alexander von Swaine

Das trifft auch Rudolf von Laban auf der Suche nach „ein bisschen Glück irgendwo auf der Welt“, wie es die Comedian Harmonists besingen. Zwei Tänzer visualisieren das mit kurzem Kuss, zärtlichen Hebungen, dann Revue als Zuflucht. Ausweg auch der Sprung aus dem Fenster – in die Freiheit oder den Tod? Der blieb Lin Jaldati erspart, nicht jedoch Auschwitz mit seinen Entwürdigungen. Wir wollen leben, wird ihre Halt gebende Devise. Paare tanzen hierzu bedrohlich wie Henker und Kreuzesopfer, bis hin zu Vergewaltigung und Erschießungstod.

Es ging alles sehr schnell, weint Wigman auf ihrem Stuhl und hat dann Freude an einer neuen Schülerin: Palucca. Die tanzt fröhlich und sprungfreudig Walzer ganz nach Palucca-Art, derweil an Zeitungen die Weisung ergeht, über sie wegen ihres teiljüdischen Blutes nur noch bedingt und ohne Superlative zu berichten. Neumeier kontrastiert jenes Walzersolo mit dem zackigen Marschtanz von Hitlerpimpfen zum Lob auf „Erika“; zaghaft und ganz hinten schließt sich Palucca dem an, eingefangen von der Idee hinter dem Tanz- und Textgetöse oder aus besorgter Vorsicht. Eine der eindringlichsten Szenen. I lost my school, jammert Wigman: Eine Intrige hat sie 1942 aus Dresden vertrieben; in Leipzig fand sie eine neue Betätigungsstätte. Wieder eine Art Flucht, wieder ewige Reisende mit Koffer, und schon Brandbomben. Der Schlager „Frag nicht, warum ich gehe“ bezieht sich auf Alexander von Swaine, seinerzeit einer der populärsten Tänzer: mehrmalige Internierung, ob wegen Homosexualität daheim oder als feindlicher Deutscher im Ausland, mit einer so langen wie bedeutsamen Karriere weltweit. Dennoch überlebt er mehr schlecht als recht und stirbt 1990 in Mexiko. Erst 2002 wird, besagt der eingesprochene Text, seine Verurteilung aufgehoben – bis dahin galt er in der Bundesrepublik als vorbestraft. Ein intensiv nachempfundenes Solo ehrt ihn.

Anna Zavalloni als Mary Wigman und Ensemble
Anna Zavalloni als Mary Wigman

Während der Pause kann man im Wandelgang Bild und Biografie zu ausgewählten Verfemten studieren. René Blum, Oda Schottmüller, Eugenia Eduardowa, Tatjana Barbakoff sind ebenso darunter wie heute Vergessene und daher „Unsichtbare“ wie Sascha Leontjew oder Richard Barnack. Den zweiten Teil leitet Wigmans briefliche Klage über die Winterkälte ein. Schuld und Not teile man, resümiert sie. Auch der Raum hat sich geteilt. Ein Schreiben von Harald Kreutzberg mit seinen Erfolgen in den friedlichen USA erreicht sie. Andere wurden daheim verdammt, verjagt, verhaftet. Er wollte nur tanzen und ließ sich dadurch möglicherweise politisch vereinnahmen. Ein heiteres Solo erinnert an ihn. Was sich anschließt, ist eine der Kernszenen des gesamten Stücks: „Anklage und Verteidigung“ richtet und entlastet wie in einem Prozess Mary Wigman, über die, in der Mitte sitzend, Argument und Gegenargument wie verbale Geschosse schwirren. Ralf Stabel als wissenschaftlicher Berater der Produktion hat in dieser Fiktion zusammengetragen, was sich real im Für und Wider von Dokumenten finden ließ. Was sie getan, was unterlassen hat und wie Kollegin Marianne Vogelsang mit ihrem mutigen „Wiegenlied für einen Gehenkten“ zumindest für Aufruhr sorgte. Billie Holiday zieht mit „Strange Fruit“ als musikalischer Grundierung eine Parallele zur Rassendiskriminierung in ihrer Heimat. Ein Urteil über Mary Wigman wird klugerweise vermieden, weil es aus der sicheren Distanz der Gegenwart anmaßend wäre.

Bob Dylans grandiose Abrechnung „With God on our side“ führt brennglashaft Missbrauch und Ohnmacht der Menschen vor Augen. Zu Klängen aus „Sacre“ tanzt sich ein Mädchen in den Tod, wird kurzerhand abgefahren. Queens „Bohemian Rhapsody“ verbreitet Zuversicht. Doch so kann ein solcher Abend nicht schließen. Die Szene ist leer, die Beteiligten verlesen im Dunkel aus den Saaltüren die Namen all jener, die bereits auf der schwarzen Tafel ihre Würde zurückerhalten haben. Lange geht das und treibt die Tränen in die Augen. Stille herrscht, ehe der Applaus eines spürbar betroffenen Auditoriums kein Ende nehmen will. Verbeugung erst nach dem zweiten Vorhang.

Pepijn Gelderman und Justine Cramer
Ida-Sofia Stempelmann als Palucca

John Neumeier ist mit „Die Unsichtbaren“ ein aufwühlendes Bekenntnis zu denen gelungen, die ihm tanzend und choreografierend vorangegangen sind, von denen einige sogar seinen Weg gekreuzt haben, ohne dass er damals Kenntnis davon hatte. Und die dem Vergessen entrissen werden müssen – als Mindestgebot für uns Heutige. Nirgendwo wird die Choreografie plakativ, nirgendwo versinkt sie im rein Ästhetischen. Neumeier bleibt bei sich, bei seiner ganz eigenen, ausdrucksstarken Bewegungssprache; er urteilt nicht, führt jedoch klar vor Augen, bezieht Position. Wie sich in „Sacre“ das gesamte Zeitgeschehen vorausfühlend zu bündeln scheint, ist eine weitere Einsicht dieser knapp dreistündigen Hommage an Künstler, die sich in eine der finstersten Epochen des vergangenen Jahrhunderts gestellt sahen. Mit welchem Einsatz die jungen Tänzer*innen des Bundesjugendballetts ihre diffizile Aufgabe technisch und darstellerisch gemeistert und den bilderreichen Fries zu nachwirkendem Leben erweckt haben, nötigt vorbehaltlosen Respekt ab. John Neumeier hat nach „Ghost Light“ ein weiteres Mal seine ungebrochene Kreativität unter Beweis gestellt. Den angekündigten Vorstellungen in Baden-Baden sollten unbedingt Auftritte auch in Tanzmetropolen wie Dresden und Berlin folgen, die mit dem verhandelten Themenkreis in unlösbarem Zusammenhang stehen!

Volkmar Draeger

Foto Intro: Monte Verità, Lennard Giesenberg als Rudolf von Laban (li.) und Ensemble
Alle Fotos © Kiran West